Grelles Licht strahlt mir entgegen. Ich verliere all meine Orientierung, weiß nicht wer noch wo ich bin. Mehr taumelnd als Gehend versuche ich, meine Orientierung und mein Gleichgewicht wieder zu erlangen. Aber es ist so schwer. Obgleich es nur Licht ist, dass in meinen Augen beißt, komme ich mir gelähmt vor und träge. Endlich verglüht das Licht. Es wird schwächer und schwächer. Viel zu langsam. Aber endlich schält sich ein Zimmer aus dem Weiß. Eine Küche mit Esszeile. Wo bin ich? Und warum bin ich hier? Und warum kommt mir diese Küche so seltsam vertraut vor? Ich fahre mit meiner Hand über die Holzbeschichtung der Theke. Viel zu glatt. Und ein bisschen kühl. Nicht sehr. Aber vielleicht zwei, drei Grad kälter als meine Körpertemperatur. Versonnen lasse ich meinen Blick über die Anrichte streichen. Wo bin ich?
„Äh-ähm!“ mein Körper zuckt zusammen unter dem Räusperte hinter mir. Ich Wirbel herum und starre in das Gesicht zweier mir unbekannten Frauen. „Ha … hallo …?“, stottere ich indem die fremden und skeptisch wirkenden Gesichter vor mir. Die eine Frau hat eine dunkle Haut und trägt ihre schwarzen Locken offen, sodass sie buschig von ihrem Kopf abstehen. Ihr gesamter, schlanker und doch muskulöser Körper streckt sich über ihre gesamte Höhe hinaus. Der Oberkörper mir zugewandt und die Hände vor der Brust verschränkt. Ihr schlanker Hals scheint noch mehr gestreckt zu sein als üblich, damit sie auf mich hinab schauen kann. Dabei ist sie kleiner als ich. Nicht viel, sie ist recht groß für eine Frau. Und doch fühle ich mich unter ihrem abweisenden Blick wie ein Eindringling. Aber ein Eindringling worein? Ich weiß doch nicht einmal, wo ich bin! Ihre Arme sind vor ihrer Brust verschränkt. Plötzlich bewegt sich etwas neben ihr. Die andere Frau winkt mir zu. Aber nicht begrüßend oder freundlich. „Tschüss“, sagte sie. Ihre Augen sind eiskalt. Dabei wären sie doch eigentlich sehr hübsch. Haselnussbraun. Mir hellen Sprenkeln. Ich ertappe mich bei dem Wunsch, näher an sie heran zu gehen, um die Farbe dieser Sprenkel heraus zu finden. Aber mein Körper bewegt sich nicht. Weder zu ihr hin noch von ihr weg. Sie ist kleiner als die Andere. Heller, von der Haut. Braungebrannt, aber dennoch hell. Zierlich. Und doch auch wieder nicht. Irgendwas an ihr zieht mich an. Und doch stößt mich alles ab. Ihre Hände sind abweisend auf ihre gewundenen Hüften gestützt, ihre Seite ist mir mehr zugewandt als ihre Front. Sie streicht ihre karamellbraunen Haare zurück, hinter ihr Ohr. Ein kleiner Ohrring blitzt auf. „Entschuldigung, bitte was?“, stammel ich. „Tschüss“, wiederholt die Frau erneut. Ebenso abweisend wie zuvor. „Du kannst doch nicht einfach an uns vorbei in unsere Küche spazieren und unsere Teke antatschen. Was glaubst du, wer du bist? Marlon Brandon?“, sagte die Dunkelhäutige. Ich schaue mich vollkommen verloren um. Die Frauen haben absolut recht. Wenn da ihre Wohnung ist, kann ich da nicht einfach rein spazieren. Aber wo zur Hölle bin ich und warum bin ich hier?!
„Hörst du schlecht?“, setzt die Kleinere nach. „Wir wollen, dass du Gehst!“ Ich zucke unter dem scharfen Ton zusammen. „Ja … ja, natürlich, Entschuldigung“, murmle ich. Dann mache ich mich auf den Weg zur Haustüre. Seltsam. Warum weiß ich so genau, wo es lang geht? Ich gehe durch den Flur. Mir fällt auf, wie seltsam steril er ist für den Hausflur zweier Frauen. Nur nackte, weiße Wände. Ein weißer Schuhschrank. Ein Spiegel mit weißen Rahmen. Als ich an ihm vorbei gehe, erhasche ich einen Glims meiner eigenen Gestalt. Seltsam. Sehe ich wirklich so aus? Meine dunklen Haare sind recht kurz geschnitten und liegen mit einem Seitenscheitel ordentlich auf meinem Kopf. Nur hier und da stehen einige Strähnen wiederwillig heraus. Ein Dreitagebart sprießt auf meinen Wangen. Um den Mund herum wird er etwas dichter und länger. Mein dunkelblaues Shirt ist mir entweder etwas zu klein oder extra so geschnitten, dass es über meiner muskulösen Brust spannt. Mir gefällt das nicht. Aber warum? Habe ich diese Kleidung nicht selbst gewählt? Ich schüttle den Kopf und gehe weiter. Weiter in das Weiß. Wieder dieses schreckliche, in den Augen brennende, Weiß. Aber sonst nichts. Keine Bilder, keine Zierde. Für Frauen sehr ungewöhnlich. Ich erröte ein bisschen bei diesem Gedanken und weise mich für dieses Vorurteil zurecht. Aber andererseits hatte ich auch nie wirklich großen Kontakt mit Frauenwohnungen. Glaube ich. Ich erinnere mich nicht.
Endlich komme ich zur Türe. Ich strecke meine Hand dem Türgriff entgegen um sie zu öffnen. Aber sie ist verschlossen. Ich bin so überrascht, dass ich voll gegen die Türe laufe. „Aua!“, protestiere ich, mehr aus Verwunderung als aus Schmerz. Die beiden Frauen stecken ihre Köpfe aus der Küche. „Ist er gerade wirklich gegen die Tür gerannt?!“, flüstert die eine. „Der ist doch total gestört! Oder voll auf Drogen! Ich hab doch gesagt, wir sollten lieber die Polizei rufen!“ Ich spüre die Wut in mir aufflammen. „Ich bin weder gestört noch auf Drogen oder sonst wie eingeschränkt“, knurre ich. Dann drehe ich mich genervt um und zeige auf die Haustüre. „Und wenn die Damen die Freundlichkeit hätten, ihre Türe wieder aufzuschließen, könnte ich dann auch endlich gehen!“ Das ist mir allmählich echt zu dumm! Die Frauen tauschen einen langen, unsicheren Blick aus. Ich verdrehe stöhnend die Augen. „Ernsthaft?! Ihr wollt mich doch los werden, also macht endlich die verdammte Türe auf!“ Nach einem weiteren unsicheren Blick zueinander, setzt sich die Kleine der Frauen in Bewegung. Die mit den karamellfarbenden Haaren. Ich mag es, wie sie sich bewegt. So in einem völlig eigenen Rhythmus. Sie wird langsamer, als sie mich erreicht. Und als sie sich nahe der Wand an mir vorbei schiebt, lässt sie mich nicht aus den Augen. Prüfend und taxierend ist ihr Blick. Wie ein scheues Reh. Sie greift nach dem Türgriff, ihre haselnussbrauen Augen weiter an mich geheftet. Mit einem trotzigen Blick drückt sie die Türklinke hinunter. Ihre Augen flackern. „Was zum …“, flüstert sie und wendet sich nun vollends der Türe zu. Mit kräftige, Nachdruck wackelt und zerrt sie an der verschlossenen Türe. Dann ruft sie nach der anderen. „Elli? Komm mal. Die Tür geht echt nicht auf!“ Lässig lehne ich mich an die Wand und betrachte das Treiben beider Frauen, die an der offensichtlich verschlossenen Haustüre ruckeln. Es hat durchaus etwas befriedigendes. Und … irgendwas an diesen Frauen fasziniert mich. Ihr Umgang miteinander ist angenehm. Ein schönes Schauspiel.
Krach! Stille. Die Frauen erstarren in ihrer Bewegung und drei Augenpaare starren ungläubig auf die abgebrochene Türklinke in der Hand der Braunhaarigen. „Och nö“, stöhnt die Frau namens Elli. Die andere ringt fassungslos nach Worten. Bevor ich weiß, was ich tue, schlage ich mir mit der flachen Hand auf die Stirn. Durch das Klatschen richten die Frauen ihre Aufmerksamkeit wieder auf mich. Sie gehen ein paar Schritte zurück in den Flur um Abstand zwischen uns zu bringen. Ganz so, als hätten sie zuvor vergessen, dass ich noch da war. „Ach, kommt schon!“, bricht es aus mir heraus. „Jetzt tut doch nicht so, als wäre das meine Schuld! Ich weiß doch auch nicht, was hier läuft! Oder wo ich eigentlich bin!“
Die Frauen schauen sich lange an. Schließlich aber nicke die Braunhaarige nickt wiederwillig und gibt uns ein Zeichen, ihr in die Küche zu folgen. Als ich die Küche betrete lehnt sie bereits an der Theke und taxiert mich mit ihren haselnussbraunen Augen. „Warum bist du hier?“, beginnt sie ihr Verhör. Ich zucke mit den Schultern. „Ich weiß es gar nicht so genau. Ich erinnere mich nicht an die letzten Tage. Nur, dass es hell war und ich dann in eurer Küche stand.“ Ihre Augenbrauen zucken nach Oben. „Hm“, antwortet sie. Dann schaut sie auf Elli. „Und was soll’n wir jetzt mit dir machen?“, fragt diese. Ich seufze und verdrehe die Augen. „Also ehrlich! Ich weiß es doch auch nicht! Ich weiß nur, dass ich – warum auch immer – in eurer Küche stehe und nicht hier raus komme. Es ist ja nicht so, dass diese Situation für mich angenehm wäre! Ich schlage also vor, dass wir miteinander klar kommen, bis wir wissen, was hier läuft.“ Schweigen. Die Luft scheint mir greifbar zu sein vor Spannung. Auf einmal atmet die Frau mit den haselnussbraunen Augen scharf aus. Mit diesem Atemzug scheint alle Anspannung aus ihrem Körper zu entweichen. Sie nickt. „Ok“, murmelt sie. „Dann muss das wohl.“ Sie blickt mich an. Und es scheint mir ganz so, dass sie mich jetzt das erste Mal wirklich sieht. Ihre Augen taxieren mich von oben nach unten. Und wieder zurück. Ihr Blick scheint weicher zu werden. Sie nickt noch mal, stößt sich von der Theke ab. Sie steht nun nun direkt vor mir. Sie geht mir bis zu den Schultern. Als sie zu mir schaut, kann ich die blauen Sprenkel in ihren haselnussbraunen Augen erkennen. Mit einem Mal spüre ich den Drang, sie besser kennen zu lernen, sie in den Arm zu nehmen und sie zu beschützen. Aber ich dränge diesen Impuls zurück und verberge ihn ganz tief in mir. Ich versuche sie anzulächeln. Sie lächelt schief zurück. Dann streckt sie mir ihre Hand zur Begrüßung entgegen. „Ich bin Nicole“, sagt sie. Begeistert ist sie von meiner Anwesenheit eindeutig immer noch nicht. Ich nehme ihre Hand, schüttle sie und antworte: „David.“ Für einen Moment scheint die ganze Welt still zu stehen. Dann senkt sie den Blick ihrer haselnussbraunen Augen und lässt meine Hand los. Sie zeigt auf die andere Frau. „Das ist Elli“, sagt sie. Ich nicke Elli zu. Sie kommt mir entgegen und schüttelt meine Hand. „Du kriegst die Couch“, sagt sie abweisend.
Die Couch also. Die Frauen geben mir ein Kissen und eine dünne Decke und ich richte mich häuslich ein. Als ich versuche, meinen langen Körper irgendwie auf die kurze Couch zu bringen, höre ich Kichern aus dem Schlafzimmer. Ich wende den Blick und erhasche durch den dünnen Spalt der offenen Schlafzimmertüre einen Blick hinein. Nicole trägt eine hellblaue, lange und weite Hose und ein helles Oberteil mit dünnen Trägern. Der leichte Stoff schmeichelt ihren Bewegungen. Sie lächelt in das Zimmer, sie lächelt Elli an. Es ist ein schönes Lächeln. Dann schließt sie die Türe. Es wird dunkel in dem Zimmer, in dem ich liege. Ich höre, wie der Schlüssel im Türschloss herumgedreht wird. Und ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nie so einsam gefühlt wie jetzt. Alleine auf der Couch in der Wohnung zweier Frauen, die mich nicht bei sich haben wollen. Und ohne den Hauch einer Ahnung, warum ich hier bin.
Ich liege lange wach. Und da fällt mir zum ersten Mal auf, dass in dem Wohnzimmer keine Uhr hängt. Ich schlage die Decke zurück. Aus dem Schlafzimmer höre ich noch das Flüstern der Frauen. Die Stimmen klingen irgendwie beunruhigt. Ich gehe in die Küche und schaue mich um. Auch hier ist keine Uhr zu finden. Und als ich mir die Fenster ansehe, stelle ich fest, dass sie blind sind. Ich kann sie weder öffnen noch hinaus sehen. Ein blasses Licht erhellt die matte Scheibe. Aber ich kann nicht sagen, ob das Fenster nach Draußen führt, oder ein anderer Raum, in dem Licht angeschaltet wurde, dahinter liegt. Ich gehe zum Kühlschrank und mache ihn auf. Kälte schlägt mir entgegen. Und künstliches Licht. Der Kühlschrank ist leer. Aber das ist irgendwie nicht schlimm. Ich habe ohnehin keinen wirklichen Hunger. Ich schließe den Kühlschrank wieder und stehe von Neuem in dem dunklen Raum. Es dauert etwas, bis meine Augen sich an das fahle Licht gewöhnen. Ich bewege mich nicht. „Kannst du auch nicht schlafen?“ Ich schrecken zusammen und wirbele umher. Nicole steht hinter mir. Ich schaue sie an. Ihre Augen wirken so traurig. Ich nicke. „Ich auch nicht“. Ihre Augen füllen sich mit Tränen. „Schon seit Tagen nicht! Wobei ich nicht einmal weiß, wie lange ich überhaupt hier bin! Du kannst hier nicht wissen, wann Tag ist und wann Nacht! Es ist einfach nicht zu erkennen! Du wirst nicht hungrig und nicht müde! David! Irgendwas stimmt hier überhaupt nicht! Ganz und gar nicht!“ Sie beginnt bitterlich zu weinen. Ich zögere. Ich kenne diese Frau eigentlich gar nicht. Aber sie steht hier vor mir und weint. Ich kann nicht anders. Ich gehe zögerlich auf sie zu. Mit offenen Armen. Wie auf ein scheuen Tier. Sie weint unbeirrt weiter. Ich berühre sie sanft an ihrem Oberarm. Und sie lehnt sich ein Stück weit in diese Berührung. Ich nehme sie in den Arm, drücke sie so sanft und fest wie es nur geht gegen meinen Oberkörper. Ich will sie nicht verschrecken, aber ich muss sie beschützen! Sie erwidert diese Umarmung, legt ihre Arme um meinen Rücken. Und weint. So sehr. Und ich versuche da zu sein für sie.
„Nicole?“, tönt Ellis Stimme aus dem Schlafzimmer. Angelockt von dem Schluchzen ihrer Freundin. Mein Körper zuckt unter dem Gefühl, etwas verbotenes zu tun. Dabei habe ich Nicole doch nur um Arm. Nicole scheint es ebenso zu gehen, denn ihre Trauer wird abgelöst von einem lauernden Harren. Wir hören Schritte und schrecken voneinander zurück. Wie zwei Teenager, die Angst davor haben, bei etwas erwischt zu werden. Elli kommt in die Küche. Sie schaut uns an. Sieht die tränennassen Wangen ihrer Freundin und schaut mich vorwurfsvoll an. Ich reiße verteidigend die Hände herauf. Ich habe nichts gemacht!, ist das Signal. Elli kneift ihre Augen nur noch mehr zusammen. Sie nimmt Nicole mit bestimmter Sanftheit am Oberarm und leitet sie zurück ins Schlafzimmer. Ohne mich auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen. Ich bleibe stehen. Irritiert. Dann löse auch ich mich aus meiner Starre und sehe mich weiter in der Wohnung um.
Es gibt kein Radio, keinen Fernseher. Kein Telefon. Keine Verbindung nach Draußen. Ich erschaudere. Aber … was kann ich tun? Immerhin finden sich Gesellschaftsspiele und Bücher. Ich verdrehe unwillkürlich die Augen über diesen Gedanken. Und dann höre ich meine eigene Stimme reden. „Was bleibt anderes übrig?“, frage ich mich. Als Antwort zucke ich mit den Schultern. Es stimmt schon. Ich weiß nicht, wo ich bin noch warum ich hier bin oder ob und wann ich jemals hier raus komme. Das Beste, was ich tun kann, ist mir die Zeit sinnvoll zu verbringen. Also, verhältnismäßig sinnvoll. Ich komme mir trotzdem total irre vor.
Ich schaue sehe mir die Bücher an. Krieg und Frieden, 1984. Don Quijote, Leben 2.0, Mobby Dick. Im Namen der Rose. Und eine Sammlung Shakespeares Werke. Eine kurze Geschichte der Zeit. Der kleine Prinz … immerhin scheinen es interessante Bücher zu sein. Und einige Klassiker. Ich greife nach Arthur Conan Doyles „Die Abenteuer von Sherlock Holmes“. Dann mache ich das Licht bei dem Sofa an und beginne zu lesen. Es ist zumindest sinnvoller, als Panik zu bekommen, weil ich hier eingesperrt bin. Oder wach zu liegen. Oder vor der verschlossenen Schlafzimmertüre zu warten, bis die beiden Frauen wieder heraus kommen und wir uns unterhalten können.
Nach einer Weile, die ich in das Buch vertieft verbringe, kommen die Frauen aus dem Schlafzimmer. Ich bemerke sie gar nicht richtig, bis sie ganz vorsichtig den Kopf durch die Türe stecken. Dann tue ich nur noch so, als würde ich sie nicht bemerken, kann mich aber nicht mehr auf das Buch konzentrieren. Ohne etwas zu sagen nehmen die Frauen sich ebenfalls Bücher und setzen sich zu mir. Nicole verschwindet noch mal kurz und holt sich eine Decke, in die sie sich hinein kuschelt. Dann lesen wir alle. Ohne zu reden. Einfach nur so. Ich bin erstaunt, wie gut mir das tut. Einfach zusammen sitzen. Und jeder macht was für sich. Trotzdem wäre es mir lieber, wir würden uns auch unterhalten. Aber ich habe Sorge, die beiden anzusprechen. Schließlich bin ich der Eindringling hier. Sie wollen mich nicht. Daher kann ich nicht mehr erwarten, als diese seltsamen Momente der stillen Gemeinschaft.
„Ich hätte jetzt echt Lust auf einen Kakao“, bricht Nicole schließlich das Schweigen. Elli und ich schauen ungläubig von unseren Büchern auf. „Du hast Hunger?“, fragt Elli mit großen, ungläubigen Augen. Nicole schüttelt mit einem traurigem Lachen den Kopf. „Nein. Aber … kennt ihr das nicht? Ein gutes Buch, eine Kuscheldecke und eine heiße Schokolade gehören einfach zusammen. Daran habe ich mich gerade einfach erinnert. Und dann habe ich Appetit auf eine heiße Schokolade bekommen. Einfach, weil sie dazu gehört.“ Ich lache. Und ich nicke. Elli verdreht die Augen und versteckt sich wieder hinter einem Buch. Nicole schaut mich verstohlen an. Ich erwidere ihren Blick. Es kommt mir fast so vor, als würden wir ein Geheimnis teilen. Ich überlege kurz. Dann frage ich sie, warum die beiden überhaupt hier im Wohnzimmer waren. Und nicht mehr im Schlafzimmer. Elli antwortet. Abweisend wie gewohnt. Ohne ihren Blick vom Buch zu heben. „Es ist unsere Wohnung“, raunzt sie. Mehr nicht. Nicole lächelt etwas betreten. Dann zuckt sie mit den Schultern und lehnt sich etwas zu mir. „Wir konnten nicht schlafen und kamen uns im Schlafzimmer dann doch etwas … eingesperrt vor“, erklärt sie mir halblaut. Ellis missbilligender Blick hebt sich ein Stück weit von den Seiten. Als wolle sie uns wissen lassen, dass sie jedes Wort hört. Ich muss einräumen, dass ich das durchaus nachvollziehen kann. Und ich komme mir wieder schuldig vor, weil ich der Eindringling in ihrem kleinen Leben bin. Ich wende mich wieder dem Buch zu.
So vergingen einige Tage. Naja, was heißt hier Tage? Es kam kein Licht durch die blinden Fenster und nirgends in der Wohnung ist eine Uhr. Wir haben nach wie vor keinerlei Zeitgefühl. Wir wissen nicht, wann es Tag ist und wann Nacht. Wir werden nicht hungrig und wenn wir uns zum Schlafen legen, werden wir doch nicht müde. Und trotzdem schweigen wir über die allgegenwärtige Gewissheit, dass hier irgendwas ganz und gar nicht stimmt.
Es ist eine unaussprechlich einsame Zeit. Die beiden Frauen meiden mich größtenteils. Und auch, wenn die immer wiederkehrenden Momente des gemeinsamen Lesens eine Art Waffenruhe zu sein scheinen, reden wir kaum miteinander. Wenn wir uns unterhalten, dann nur mit wenigen Worten über das Notwendigste. Und zumeist ist es Nicole, die sich mir zuwendet. Auch, wenn sie dafür meist vorwurfsvolle Blicke von Elli kassiert, die mir gegenüber nach wie vor sehr abweisend auftritt. Und immer wieder probieren wir aus, ob die Wohnungstüre vielleicht doch endlich aufgeht. Einmal, als ich es wieder probiert habe, komme ich an dem Schlafzimmer der beiden Frauen vorbei. „Du hast doch keine Ahnung, wer er überhaupt ist!“, klingt Ellis Stimme durch die geschlossene Türe. Ich bleibe stehen. „Er kann einer von denen sein, die uns hier fest halten!!“, schreit sie weiter. Mein Atem stockt. Wissen die beiden etwa, wer uns hier fest hält?! „Das Gleiche kann ich auch über dich sagen! Ich weiß nichts über dich!!“, kontert Nicole und es wird still. Ich spüre, wie es mir kalt den Rücken hinunter läuft. Ich dachte, die beiden seien Freundinnen! Was ist hier los?!
Bevor ich weiß, was ich tue, klopft meine Hand an die Türe des Schlafzimmers. Ich trete ein. Die Frauen stehen sich gegenüber. Sie funkeln sich an. Und alles an ihnen spricht von Streit. Elli verdreht die Augen und schaut mich an. „Raus!“, ist ihre herzliche Begrüßung. „Nein“, antworte ich. „Nach dem, was ich gerade gehört habe, müssen wir echt reden!“ Sie funkelt mich wütend an. „Du belauscht uns?“, faucht sie. Ich lehne mich ihr ein Stück weit entgegen. „So leise wart ihr echt nicht. Und die Wohnung ist nicht besonders groß.“ Elli schnaubt. Nicole reibt sich die Stirn. „Worüber willst du reden?“, fragt sie sichtlich genervt und angestrengt. Ich zögere. Mit fällt auf, dass ich das nicht wirklich durchdacht habe. „Wisst ihr, wer uns hier her gebracht hat?“ Die Frauen schütteln resigniert den Kopf. „Aber ihr unterstellt den jeweils anderen, dass sie was damit zu tun haben?“ Nicole errötet. Sie scheint erneut den Kopf schütteln zu wollen. Dann seufzt sie. „Wir können es halt nicht wissen.“ Sie schaut Elli an. „Elli war schon hier, als ich hier ankam. So wie du. Ich schritt durch ein grelles Licht und stand plötzlich in der Küche. Elli nahm mich nett auf, aber … ich weiß nicht.“ – „Es hat sich halt nichts verändert“, fährt Elli fort. Dann wendet sie sich mit zu. „Und dann kamst du. Nicole war kein großes Problem. Wenn sie mir hätte was antun wollen, hätte ich sie fertig gemacht.“ Nicoles Protest auf Ellis Einschätzung verhallt ungehört unter Ellis weiteren Worten: „Aber bei dir ist das anders. Ich kann dich nicht einschätzen.“ Ich nicke. „Dann bist du am längsten hier?“, frage ich sie und sie nickt. „Das wird dir nur nichts bringen, denn bei mir war das genau so wie bei euch. Ich hatte gehofft, all das lösen zu können, aber ich habe keinerlei Anhaltspunkte, was hier los ist! Und einfach so zu tun, als wäre nichts, funktioniert einfach auch nicht!“ Ich nicke wieder. Vorsichtig gehe ich einen Schritt auf sie zu. „Das macht Angst, oder?“ Elli lacht wütend auf. „Verdammt richtig!“ Ich gehe noch einen Schritt auf sie zu. Ganz, ganz vorsichtig. Ich sehe, wie sie sich sträubt. Und trotzdem weicht sie nicht zurück. „Uns geht’s genau so“, sage ich so sanft wie ich kann. Aus dem Augenwinkel sehe ich Nicole nicken. Elli kneift ihre Augen zusammen. „Ich will dir nichts tun. Wir sind alle im gleichen Boot“, fahre ich fort und bin nun nah genug, um ihr ganz vorsichtig die Hand auf den Oberarm zu legen. Sie schaut auf ihren Arm. „Ich hab‘s kapiert“, grummelt sie. „Du brauchst mich also nicht zu behandeln wie ein scheues Tier.“ Ich höre Nicole überrascht auflachen. Als wir sie anschauen zuckt sie mit den Schultern und sagt: „Ich weiß, was du meinst. Trotzdem. Er ist gut im trösten.“ Elli schaut mich misstrauisch an. Ihre Mundwinkel wandern nach rechts. Sie geht einen Schritt auf mich zu. Ich nehme sie vorsichtig in den Arm. Die Spannung in ihrem Körper ist deutlich zu spüren. Erst nach und nach entspannt sie sich. Und ihre Tränen benetzen mein Hemd.
Elli erzählt, wie einsam sie ist. Wie ratlos. Und wie machtlos. Ich stehe nur da und halte sie. Nicole kommt dazu und streichelt ihr sanft über den Rücken. Als sie sich wieder löst hat sich etwas verändert. Ich schau die beiden Frauen an und sehe, wie sich das Misstrauen ein Stück weit verändert hat. Natürlich vertrauen sie mir nach wie vor nicht wirklich. Aber sie scheinen bereit zu sein, mich in der Wohnung zu dulden.
Wir verbringen nach wie vor viel Zeit im Wohnzimmer mit Lesen. Aber die Qualität dieses Zusammenseins hat sich verändert. Hin und wieder lesen wir einander was vor. Oder wir spielen Gesellschaftsspiele. Oder wir reden darüber, wer wir sind. Was wir erlebt haben, bevor wir – warum auch immer – in dieser Wohnung gelandet sind. Leider ergibt sich auch daraus kein Hinweis, warum wir hier sind. Dennoch. Seit langer Zeit fühle ich mich nicht mehr einsam. Und zum ersten Mal seit meiner unfreiwilligen Ankunft hier stellt sich die Frage, was hier los ist, in den Hintergrund.
Ich sitze mit Elli im Wohnzimmer. Wir lesen, natürlich. Nicoles Buch liegt auf ihrer Decke, wo sie es hingelegt hat. Sie selbst ist ins Badezimmer gegangen, um die Zähne zu putzen. Sie sagt, sie braucht das. Ich kann das irgendwie verstehen. Es ist ein Stück Gewohnheit. Auf einmal erschüttert ein Schrei das Apartment. Ellie und ich schauen uns an. Kreidebleich. Ich springe auf, dem Schrei entgegen. Zu Nicole! Wo ist sie? Noch im Badezimmer? Tatsächlich. Hier steht sie. Die Zahnbürste liegt auf dem Boden neben ihr. Sie hockt nur da. Gekrümmt von Entsetzen und Schmerzen. Umgeben von Zahnpasta, Tränen und Blut. Blut? Ich spüre, wie ich noch weiter erbleiche. Und bevor ich weiß, was ich tue, stürme ich auf sie zu und nehme sie in den Arm. Ich halte sie ganz fest. „Was ist passiert?!“, frage ich und versuche die Panik in meiner Stimme runter zu schlucken. Sie hält zitternd ihr blutiges Handgelenk. Hat sie etwa … hat sie versucht sich umzubringen?! Warum? Ich dachte, wir hätten uns langsam mit unserer Situation abgefunden. Was hat sich verändert?! Sie wendet mir ihr Gesicht zu. Ihre tränennassen, haselnussbraunen Augen sind weit aufgerissen und voller Panik. „Sie … sie ist einfach aufgegangen!“, weint sie. Ich umfasse ihren Arm. Versuche, die Blutung zu stillen. Dann stocke ich. „Moment … was??!“, erwidere ich ungläubig, als ich verstanden habe, was sie gesagt hat. „Einfach aufgegangen?“, wiederhole ich ungläubig. „Wie soll das denn … “ noch bevor ich den Satz zu Ende sprechen kann, ihr erklären kann, dass Arme nicht einfach auf gehen, schreit sie auf. Pure Qualen klingen aus ihrer Stumme. Ihr anderer Arm beginnt zu bluten. Ich sehe, werde Zeuge, wie sich ihr Gelenk an der Ader einfach öffnet. Als würde ein unsichtbarer Faden die Haut aufziehen. Ich spüre, wie meine Gedanken neblig werden. Das ist doch nicht möglich! Das konnte nicht sein! Ich schaue hilfesuchend zu Elli, die regungslos und den Tränen nahe an der Türe zum Bad steht. Sie zögert. Dann dreht sie sich um und rennt weg. Ich wende mich wieder Nicole zu. Hilflos. Was zur Hölle ist hier los?!
Elli kommt zurück. Sie presst einen Erste-Hilfe-Kasten ganz eng an ihren Körper. Aber sie gibt ihn mir nicht. Sie starrt auf Nicole. Völlig gelähmt. Unfähig, die Schwelle zu übertreten. Ich kann es ihr nicht einmal verübeln. Nicole schaut auf. Tränen rennen ihre Wangen hinunter. Erst dieser Blick holt Elli aus ihrer Starre. Sie zuckt. Der Verbandskasten löst sich von ihrem Oberkörper. Sie kniet sich hin und schiebt ihn mir zu. Ich versuche ihn mit einer Hand zu öffnen, während ich mit meinen anderen Arm Nicole fest an mich drücke. Als würden ihre Schmerzen dadurch vergehen. Als er offen ist, hebe ich ganz vorsichtig Nicoles Gesicht dem Meinen zu und sage ihr, dass wir jetzt ihre Wunden verbinden. Sie nickt. Dann hält sie mir ihre blutenden Arme hin. Ich werde bleich. Ich wende mich Elli zu. „Elli, mach ein Handtuch nass, wir müssen die Wunden säubern“, weise ich sie an. Sie starrt unverändert auf Nicole. „Elli!“, wiederhole ich und ihre Starre wird durch ein durchgehendes Zucken aufgelöst. Apathisch geht sie zum Waschbecken und tut, was ich ihr auftrage. Wir tupfen das Blut ab. Legen eine mit Salbe bestrichene Kompresse auf die Wunde. Erst der eine Arm, dann der andere. Ich zwinge mich, Nicoles Arme ohne Zittern zu verbinden. Ich versuche, ruhig zu bleiben und sie dadurch zu beruhigen. Auch, wenn mir überhaupt nicht danach ist! Viel lieber würde ich schreien und weinen und mich unter der Bettdecke verstecken! Ich habe etwas gesehen, was nicht möglich ist! Und dabei wurde jemand verletzt, den ich mag. Wirklich mag. Ich stocke und sehe Nicole an. Ich mag sie wirklich. Diese Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag. Und in dieses seltsame Gefühl der Verletzlichkeit, der Entdecktheit, steigt eine Erinnerung empor. Verdammt! Ich weiß, wer sie ist! „Du bist Nicky!“, rufe ich, bevor ich weiß, was ich tue … oder was das wirklich bedeutet. Nicole zuckt unter diesen Worten zusammen und schaut mich entsetzt an. „Was?!“ Ich halte ihren Blick. „Du bist seine Nicky! Adrian! Er ist dein Freund!“
Bei dem Namen meines Bruders erweitern sich Nicoles Augen noch mehr. Panik schleicht sich in ihren Blick. Und eine Erinnerung. Ich sehe, wie eine schreckliche Erinnerung sich den Weg durch ihren Kopf bahnt, bis in ihre haselnussbraunen Augen mit den blauen Sprenkeln. Sie bricht den Blickkontakt zu mir ab. Und ruckartig zieht sie ihre Arme fest an ihren Körper. Die Mullbinde, die ich ihr gerade angelegt hatte, baumelt in dieser plötzlichen Bewegung nach. Vollkommen lautlos. Still. Alles ist still. Ich beobachte Nicole. Nicky. Adrians Nicky. Warum hat sie das so verletzt?
„Nein“, flüstert sie schließlich. „Er ist nicht mein Freund. Er hat mich verlassen.“ Dann schaut sie mir direkt ins Gesicht. Ihr Blick ist kalt und einsam und so unbeschreiblich verletzt. Und mit einer tiefen Bitterkeit in ihrer Stimme fährt sie fort: „Darum habe ich mich umgebracht!“
Nach dieser Offenbarung wird Nicole still. Ihre haselnussbraunen Augen mit den blauen Sprenkeln wenden sich nach Innen. Sie schaut mich nicht mehr an. Sie steht auf. Sie schaut auf ihren unfertig verbundenen Arm. Sie versucht ihn sich selbst fertig zu binden. Als ich ihr helfen will, wendet sie sich von mir ab. Elli reicht ihr die Hände. Ohne die Schwelle zum Badezimmer zu überschreiten. Nicole lässt sich von ihr den Arm fertig verbinden. Dann gehen sie raus aus dem Zimmer. Nach kurzer Zeit höre ich die Türe vom Schlafzimmer ins Schloss fallen. Und ich fühle mich wieder unbeschreiblich einsam. Hier. Allein auf dem blutverschmierten Boden des Badezimmers. Ich seufzte. Ich versuche, irgendwie das Chaos in meinem Kopf zu sortieren. Was ist da gerade passiert? Was … ich … Tränen zerplatzen auf den Fliesen. Es sind meine. Ich sacke noch tiefer in mich zusammen. Was soll ich nur tun?
Ich tue erstmal gar nichts. Ich bleibe auf diesem kalten, blutverschmierten Fliesenboden sitzen und weine. Den Kopf tief in die Hände vergraben. Ich bin völlig überfordert. Schließlich, als ich mich endlich ausgeweint habe, rutsche ich zurück und lehne mich gegen die Wand. Ein tiefer Seufzer durchzieht den sonst stillen Raum. Es ist mein Seufzer. In was für eine absurde Situation habe ich mich nur gebracht. „David … du sitzt echt in der Scheiße!“, füllt meine Stimme den Raum. Und irgendwie versuche ich ein weiteres Mal, Ordnung in all die Geschehnisse der letzten Zeit zu bringen. Ich habe mich in die Freundin meines Bruders verliebt! Das ist das erste, was mir einfällt. Und bei dem Gedanken fühle ich mich wie ein geprügelter Hund. Mein Bruder, Adrian, war immer der Stolz der Familie. Charmant, erfolgreich, intelligent. Er schloss seine Ausbildung zum Chirurg mit Bravour ab und ist immer das helle Licht, mit dem ich geblendet werde. Was ich hingegen geleistet und auf die Beine gestellt hatte, war vollkommen nebensächlich. Immer ging es nur um ihn. Warum kannst du nicht so sein wie Adrian. Sieh mal, Adrian hat schon dies und das. Adrian kann jenes. Adrian ist schon verlobt. Warum kannst du keine … verlobt … Nicole. Meine Nic … nein, seine Nicole. Seine Nicky. Ich hatte nie wirklich viel Zeit mit Nicole verbracht … also, vorher. Bevor wir … hier waren, wo auch immer das ist. Ich habe sie auf der Verlobungsfeier meines Bruders gesehen, sicher. Aber ich erinnere mich nicht wirklich an sie. Ja, sie sah toll aus und wirkte vornehm und kultiviert. Und sie war außerhalb meiner Liga. Das ließen sie mich alle zu Genüge spüren. Ich versuche mich zu erinnern, ob sie glücklich gewirkt hatte, auf der Feier. Aber ich kann es nicht mehr sagen. Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich. Aber muss sie wohl. Schließlich war sie mit Adrian zusammen. Dem Adrian. Ich spüre ein spöttisches Lachen aus mir herausbrechen. Dann seufze ich wieder. Naja. Wenn sie mit meinem Bruder zusammen ist, habe ich ohnehin keine Chance. Auch, wenn er sie verlassen hat, bleibt sie tabu … warum er sie wohl verlassen hat? Und warum … plötzlich erstarre ich. Erst jetzt sacken Nicoles Worte wirklich tief in mich ein. „Darum habe ich mich umgebracht.“ … aber … warum ist sie dann hier??!! Warum ist sie dann lebendig?? Oder … ist sie gar nicht lebendig? Aber … heißt das, dass Elli und ich ….
Elli reißt mich aus dem Gedanken. Sie steht in der Türe. Sie blickt auf das Blut. Ich blicke auf sie. Endlich reißt sie den Blick von der riesen, roten Lache los und räuspert sich. „Nicole will mir dir sprechen“, lässt sie mich tonlos wissen. Dann dreht sie sich um und geht. Flüchtet geradezu. Und ich kann es so gut verstehen. Ich seufze und rappel mich auf. Gehe zu ihr … zu seiner Nicky …
Es ist das erste Mal, dass ich das Schlafzimmer von Innen sehe. Ein großes, gusseisernes Bett steht unter dem blinden Fenster. Ansonsten ist alles eher schlicht gehalten. Ein Schrank, ein Schreibtisch. Ein Regal. Nicole sitzt auf dem Bett. Die verbundenen Arme neben sich tief in die weiche Matratze gestammt. Die Matratze biegt sich unter Nicoles Körper. Schmiegt sich an. Nicole ist in sich zusammen gesunken. Den Blick nach unten gerichtet. Sie sieht so verloren aus. Und ich will sie trösten. Aber ich rühre mich nicht vom Fleck. Sie seufzt. Ihre Arme entspannen sich, was ihre Schultern ruckartig absacken lässt. Sie blickt mich an. Ihre Augen sind rot und verquollen. Ich merke, wie uns beiden die Tränen wieder in die Augen steigen. Ihr Kopf zuckt und weist mich an, mich neben sie zu setzen. Ich komme mir ziemlich verloren vor, neben ihr. So sitzen wir eine Weile. Beide vollkommen einsam. Es fühlt sich sehr, sehr seltsam an. Und ich bin dankbar, als sie schließlich ihren Kopf an meine Schulter legt. „Was ist das Letzte, woran dich erinnerst?“, fragt sie mich. Eine Erinnerung steigt in mir hinauf und ich schlucke. Ich zucke mit den Schultern. Sie schaut mich an. Ich wende den Blick von ihr ab. „Die letzte Erinnerung, an dein Leben, meine ich“, beharrt sie. Nun schaue ich sie doch an. „Du meinst, wir sind tot?“, frage ich ungläubig. Nun zuckt sie mit den Schultern. „Irgendwie sowas, ja. Ich meine … Ellis letzte Erinnerung sind die hellen Lichter eines Autos. Und meine …“ sie hebt einen ihrer verbundenen Arme ein Stück weit und lässt ihn wieder auf ihren Schoß plumpsen. „Naja, du weißt schon …“ Wir schweigen eine Weile betreten. Sie lehnt weiter auf meiner Schulter. Ich lege meinen Arm um sie. So sitzen wir erstmal da.
„Woher kennst du Adrian“, fragt sie schließlich und ein Stich geht mir durchs Herz. Scheinbar hatte ich wirklich überhaupt keinen Eindruck bei ihr hinterlassen. Naja, wir haben uns ja auch nicht oft gesehen … und ob wir einander wirklich vorgestellt wurden, weiß ich schon gar nicht mehr. Außerdem ist es ja lange her. Ich weiß mich zusammen. „Familie“, nuschel ich kaum hörbar und nebenbei. Ich spüre, wie ihre Augen sich ungläubig weiten. Sie löst sich von meiner Schulter und schaut mich fassungslos an. Dann dreht sie mein Gesicht dem ihren zu und mustert mich eindringlich. „Du bist sein Bruder!“, platzt es aus ihr hervor. „Der niedliche Bruder, der mich auf irgendeiner Feier von ihm so völlig ignoriert hat!“ Nun schau ich sie fassungslos an. Niedlich?! Ignoriert?! Aber alles, was meinem Mund entwischt ist ein sehr, sehr dummes: „Das war deine Verlobung!“
Nicole fällt alles aus dem Gesicht, als sie das hört. Sie reibt sich die Stirn. „Ja … da war ja was …“, murmelt sie schließlich. „Ich verstehe auch nicht, warum er dich verlassen haben sollte“, schieße ich weiterhin eine Salve dummer Sätze in ihre Richtung. Sie lacht bitter auf. „Ich ja auch nicht! Er war mein Alles! Und dann halt nicht mehr! Dann war er weg.“ – „Aber er hat sich solche Sorgen gemacht, als du … also … als …“ – „Als ich mich umgebracht habe“, beendet sie meinen Satz mit einer kalten Miene. Ich nicke verschämt. Dann seufze ich. „Er hat es mir erzählt“, flüstere ich. Und ich erzähle ihr von meiner letzten Erinnerung.
Ich erzähle ihr, wie aufgelöst mein Bruder war, weil sie einfach verschwunden schien. Vom Erdboden verschluckt. Und wie er mich eingeladen hatte, zu sich nach Hause. Als seinen Bruder. Wir aßen und er hatte erzählt, wie besorgt er war. Dass er Angst hätte, sie niemals wieder zu sehen. Und wie sehr er sie vermissen würde. „Sonst erinnere ich mich nicht an viel. Wenn wir wirklich tot sind, wird wohl irgendwas auf dem Heimweg passiert sein“, schließe ich den Bericht. „Keine Ahnung … Glaubst du wirklich … das wir tot sind?“ Nicole zuckt mit den Schultern. „Hast du eine andere Erklärung?“
Nachdem Elli, Nicole und ich erkannt hatten, dass wir tot sind, zog überraschend schnell wieder eine Form des Alltages in unsere zeitlosen Tage. Bücher, Spiele. Hier und da ein bisschen Reden. Geschichten, aus unseren viel zu früh beendeten Leben. Und immer schwebe über uns die unausgesprochene Frage, wie lange wir jetzt noch hier bleiben würden. War das schon der Tod? Oder nur der Limbus? Ich meine … auch, wenn ich mir das Fegefeuer anders vorgestellt hätte … schön ist das hier sicherlich nicht.
Wie so oft sitzen wir im Wohnzimmer und lesen unsere Bücher. Ich hatte mir dieses Mal „Das kunstseidende Mädchen“ gegriffen. Nicht die leichteste Lektüre. Vor allem, wenn man immer wieder davon abgelenkt wurde, weil man jemand anderen beobachtete. Ich betrachtete sie verstohlen. Ob ich wohl eine Chance bei ihr hätte? Jetzt? Hier? Ohne meinen Bruder? Im Tod? Sie ist in ihr Buch vertieft. „Der kleine Prinz“. Immer wieder huschte ein leises Lächeln über ihre feinen Lippen. Von meinen Blicken bemerkte sie nichts. Oder? Sie sieht auf. Ganz plötzlich. Gezielt in mein Gesicht. Mir läuft es heiß und kalt den Rücken herunter. Sie weiß es!, schießt mir durch den Kopf! Sie weiß, dass ich sie beobachtet habe! Ob sie auch weiß, was ich gedacht habe? Sie lächelt. Ich lächle zurück. Und hoffe, dass es nicht allzu gequält wirkt. Da erstarrt ihr Blick, wandelt sich in völlige Fassungslosigkeit. Und noch bevor ich weiß, was passiert ist, höre ich neben mir ein Keuchen. Es kommt aus Ellis Richtung. Und wie zur Bestätigung japps Nicole: „Elli?“ Ihre Stimme überschlägt sich fast vor Angst. Sie steht auf, will zu ihrer Freundin und ist doch unfähig zu ihr zu gelangen. „Elli!“, ruft sie noch schriller. Ich löse meinen Blick von ihr und wende mich Elli zu, die auf dem Sessel neben mir sitzt. Ich erschaudere. Elli zittert, kann sich kaum noch auf dem Sessel halten. Ihre Augen sind so weit nach hinten gedreht, dass nur noch das Weiß zu sehen ist. Ich sprinte zu ihr, lege meine kühle Hand auf ihre Stirn, in der Hoffnung, sie so zu beruhigen. Aber sie zittert nur weiter. „Elli“, sage ich in einer möglichst tiefen, sicheren Stimme. Aber wieder ist mir nach so ziemlich allem anderen als danach, ruhig zu bleiben. Elli reagiert nicht. Nicole hockt neben mir. Ihre Hände vor den Mund geschlagen betrachtet sie fassungslos ihre Freundin. Und ich spüre ihre Erwartung, dass ich ihr doch helfen muss. Aber wie? Elli jappst weiter. Ich kratze all mein medizinisches Wissen zusammen. Aber sie hat nichts im Hals stecken und davon, dass sie Anfälle hat, weiß ich auch nichts … davon ganz abgesehen sind wir tot! Da sollte man keine Anfälle mehr haben! „Mama!“, jappst Elli plötzlich. „Mama, Papa, nein!“ – „Elli! Wovon redest du! Wir sind es! Nicky und David! Hörst du uns?!“ Elli stöhnt. „Bitte, nein, nicht! Ich wache wieder auf! Bitte, gebt mir noch ein bisschen mehr Zeit! Ich schaffe das! Gebt mich nicht auf, bitte. Bitte! Mama! Papa! Bitte!! Ich bin noch da!! Bitte!!“ Nicole und ich schauen uns an. Fassungslos. Alles an uns erschaudert. Wovon spricht sie? Auf einmal beginnt das gesamte Apartment zu brummen. Ich weiß nicht, ob dieses Brummen meine Ohren oder meinen Bauch zusammenpresst. Und immer wieder gibt es dieses unerträgliche, schrille Pipen. Ich greife nach Nicoles Hand, drücke die andere auf meine Ohren. Nicole erwidert meinen Griff. Da wandelt sich das Brummen in eine tiefe durchdringende Stimme. „Gibt es denn wirklich keine Möglichkeit, dass sie wieder aufwacht, Doktor?“, tönt es. Ein Mann. Ein anderer Antwortet. Begleitet von einem Rascheln, als würde jemand mit einem hohen Kragen seinen Kopf schütteln. „Leider nicht, Mr Allister. Die Gehirnfunktionen ihrer Tochter haben sich über die letzten Wochen nicht verbessert. Sie jetzt noch künstlich am Leben zu erhalten wird nichts an ihrer Situation ändern. Sie wird nicht mehr aufwachen.“ Das Weinen einer Frau. Mehr Rascheln. Elli wimmert. „Bitte“, fleht sie immer wieder. Aber mittlerweile ist es mehr ein Flüstern als ein Rufen. „gebt mich noch nicht auf.“ Ein Grunzen. Es erinnert mich für einen Sekundenbruchteil an meinen Vater. So klang er, wenn er einer Sache zugestimmt hat, die er eigentlich nicht wollte. Die Frauenstimme weint noch heftiger. Und immer wieder wimmert Elli ihr flehendes Bitten. Dann hört das unerträgliche Pipen auf. Elli zuckt noch ein paar Mal. Dann entspannt sich ihr Körper. Ihre Augen rollen zurück in die normale Position. Und sie schaut uns an. Unendlich traurig. Und unendlich frei. „Lebt wohl“, flüstert sie. Dann löst sie sich langsam in Licht auf. Flimmert kurz. Dann verlischt sie. Und ist fort.
Nicole und ich schauen vollkommen fassungslos auf den leeren Sessel. Den Sessel, auf dem vor wenigen Minuten noch Elli gesessen hatte. Eine etwas eigenwillige aber sehr gütige Frau. Ich spüre den nassen Film auf meinen Wangen und mir fällt auf, dass mein Gesicht tränennass ist. Nicole ist es, die mich zurück in die Wirklichkeit holt … wenn man das überhaupt so nennen kann. Sie drückt meine Hand, die noch immer die ihre fest umklammert hat. Ich wende mich ihr zu. Ihr Kopf hängt und ihre karamellbraunen Haare verdecken jegliche Gesichtszüge. Sie sieht so schrecklich einsam aus. Ich umarme sie, halte sie ganz fest, stehe ihr bei. Unter meiner Berührung schluchzt und bebt ihr Körper. Sie weint bitterlich um ihre Freundin. Und ich kann nichts tun, um sie zu trösten.
Als sie sich schließlich ausgeweint hat, erschlafft ihr Körper in meinen Armen. Ich halte sie fest. So lange sie es braucht. Schließlich aber schnieft sie ein letztes Mal, fährt mit ihrem Handrücken über ihre Nase und schaut mich mit ihren tränenroten Augen an. Sie zuckt mit den Schultern. „Sieht so aus, als seien wir doch noch nicht tot“, murmelt sie schließlich. Ein überraschtes Lächeln huscht über meine Lippen. Meine tapfere, starke Nicole. Und bevor ich weiß, was ich tue, ziehe ich Nicole an mich und drücke ihr einen festen, warmen Kuss auf die Stirn. Ich liebe sie.
Als sich meine Lippen von ihrer Stirn lösen, schaut Nicole etwas bedröppelt. Ich schaue verlegen zurück. Plötzlich lehnt sie sich in einer fließenden Bewegung zu mir und küsst mich. Hingebungsvoll, lockend. Leidenschaftlich. Ich erwidere ihren Kuss, spüre, wie meine Gedanken neblig werden. Nur leise klingt eine Stimme in meinem Kopf, die mich davor warnt, dass ich nicht gemeint bin. Aber ihr Duft steigt mir in die Nase und macht mich zu einem Zuschauer, während mein Körper vollkommen selbstständig aggiert. Meine Hand greift entschlossen und sanft an ihren Hals. Dabei streichen ihre weichen Haare über meine Haut. Sie kniet mich hin, zieht mich an ihren Lippen empor zu ihr, und greift grob an mein Hemd. Zerrt daran, als würde es dadurch verschwinden. Die Stimme in meinem Kopf schreit auf. Laut. Schrill. Ich greife ihren verführerischen Körper an den schmalen Schultern und drücke sie von mir fort. Sie schaut mich an. Ihre haselnussbraunen Augen verschlingen mich. Alles an mir will ihr nachgeben. Und dennoch frage ich die zerstörerische Frage: „Willst du das wirklich?“
Nicoles Augen flimmern. Ihr Blick richtet sich nach innen. Dann sieht sie mich wieder an. „Du nicht?“, fragt sie zurück. Ich komme mir vor, als würde ich schmelzen. Und dennoch halte ich sie von mir fern. „Mehr als alles“, hauche ich sehnsuchtsvoll. Sie nimmt meine Hand sanft von ihrer Schulter und führt sie zu ihrem Mund. Sie drückt einen warmen, sanften Kuss auf meine Handinnenfläche. Ich spüre, wie eine Woge der Begierde mich zu überschwemmen droht. Ich beiße mir auf die Unterlippe. Ich will sie! So unbedingt! Sie schaut mich mit einem tiefen Blick an. Traurigkeit schimmert hindurch. Aber auch die Entschlossenheit zu leben, so lange wir es noch können. „Dann genieß es“, haucht sie. Und ich lasse alle Zurückhaltung gehen. Ich drücke ihren weichen Körper ganz eng an mich, lasse sie spüren, wie sehr ich sie will. Ich fahre mit meinen Händen unter ihr Oberteil und spüre die warme, zarte Haut ihres makellosen Rücken. Unsere Küsse werden immer heißer, immer dringlicher, als sie sich von mir löst und ihre Arme empor hebt. Meine Hände ziehen ihr Oberteil über ihren Kopf und entblößen ihre schönen Brüste. Ich beuge mich zu ihnen hinab und liebkose sie. Nicole seufzt genussvoll unter meiner Berührung. Ich löse ihren Bh und entdecke die ganze Pracht dieser wunderschönen Brüste. Die vor Lust harten Nippel, die sanften Rundungen. Sie berührt meinen Hals, fährt von oben in mein Hemd, streichelt über meinen Rücken. Dann sieht sie auch mir das Oberteil aus. Mit der Ungestühmheit der dringenden Begierde. Als sie es in den Händen hält, lehnt sie sich kurz zurück und betrachtet mich. Sie lächelt sinnierend. Dann scheißt sie das Hemd weg und stürzt mir entgegen. Ich lasse mich von ihrem Schwung mitreißen. Wir sinken auf den Boden. Ich fahre immer und immer wieder über ihre Haut, gehe immer tiefer, erkunde und entdecke sie, genieße ihre Berührung, zerfließe. Und immer wieder küssen wir uns. Überall hin. Und vergehen in einem Meer von Lust.
Wir haben miteinander geschlafen, Nicole und ich. Einfach so. Direkt im Wohnzimmer auf dem Boden. Da wo wir waren, so wie wir waren. Irgendwann haben wir eine Wolldecke von dem Sofa geangelt, die nun auf uns liegt. Nicole drückt sich ganz eng an meine Seite, streift mir sanft über die Brust. Ich derweil lächle sie an und fahre ihr durch ihr weiches, karamellbraunes Haar. In mir steigt die Frage empor, wie es nun weiter gehen soll. Aber ich möchte den Moment nicht zerstören. Und überhaupt … was soll das in unserer Situation überhaupt bedeuten? Sie blickt mich irritiert an. „Was ist das?“, fragt sie und ich versuche meinen Halt zu recken, um zu entdecken, was sie wohl ungewöhnliches auf meiner Brust gefunden hat. Sie verdreht die Augen. „Kannst du das nicht hören?“, spezifiziert sie ihre Nachfrage. Als ich lausche höre ich tatsächlich ein Murmeln. Ich strenge mich an, aber ich kann nicht wirklich was verstehen. „Was ist das?“, frage nun auch ich und erst dann fällt mir auf, dass sie ja die gleiche Frage gestellt hatte. Sie aber legt den Finger auf die Lippen und lauscht angestrengt. Plötzlich reißt sie ihre Augen auf. „Das ist Adrian!“, ruft sie erstaunt aus. Ich schau sie irritiert an. „Adrian?! Was sagt er?“ Nicole lauscht weiter. Ich versuche auch zu lauschen, aber höre nicht viel mehr als Murmeln. Nicole aber scheint etwas zu verstehen, denn ihr Gesicht erzählt eine wundersame Geschichte. Ihr Blick beginnt irritiert und besorgt, wandelt sich dann in einen warmen Ausdruck, ein Lächeln gar. Dann aber wird er immer ungläubiger, immer fassungsloser. Und ihre wunderschönen, haselnussbrauen Augen füllen sich nach und nach mit feuchten Tränen. Ihr Hals reckt sich immer höher, als würde ihr das dabei helfen, die gemurmelten Worte zu verstehen. Ich beobachte dieses Mienenschauspiel gleichermaßen fasziniert und besorgt. Und dann zieht sie plötzlich ruckartig ihre Hand zu sich, schreit. Als hätte sie sich die Hand verbrannt. Die Tränen rennen nun unhaltbar über ihr bleiches Gesicht. Eine Türe knallt. Stille. Das Murmeln ist weg. Alles, was an dieses seltsame Erleben erinnert, ist Nicole, die weinend an den Sessel gekauert sitzt. Nackt. Das Gesicht hinter ihren Armen verborgen. Die Beine angezogen. Und die einst schneeweißen Verbände an ihren Unteramen tönen sich nach und nach blutrot.
Ich rappel mich hoch, nehme die Decke und lege sie schützend um das zitternde, wimmernde Bündel, zu dem Nicole geworden ist. Ich versuche sie warm zu halten. Zu beschützen. Und doch ist mir klar, wie sehr ich die ganze Zeit schon darin versage. Ich konnte sie nicht davor beschützen, dass mein Bruder sie verlassen hat. Ich konnte sie nicht davor beschützen, dass sie hier her gekommen ist. Ich konnte sie nicht vor ihren Wunden beschützen noch davor, dass sie Ellis Verschwinden mitansehen musste. Ich konnte sie nicht vor dem Murmeln beschützen und so kann ich es auch jetzt nicht. Alles, was mir bleibt, ist der verzweifelte Versuch, es dennoch zu probieren. Wieder und wieder. In der vagen Hoffnung, dass es vielleicht doch hilfreich ist. Wenigstens ein kleines Bisschen. Nicole schaut mich an. Ihre Augen rot vom Weinen. „Hast du wirklich nichts gehört?“, haucht sie. Mein Herz zieht sich zusammen. Ich schüttel den Kopf. Ein kleines bisschen nur. Nicole presst ihre Lippen aufeinander. Dann schlägt sie ihren Blick nieder und nickt. „Er hat gesagt, dass ich zurück kommen soll.“, erzählt sie heiser. „Zunächst hat mich das gefreut, weil ich dachte … ich dachte …“ Tränen steigen wieder in ihre Augen. Sie schüttelt den Kopf, als würde sie dieses Gefühl abschütteln wollen. „Ich dachte, es könnte wieder so werden wie vorher“, schließt sie dann. „Aber ich bin mit gar nicht mehr so sicher, ob das damals wirklich so gut war. Und dann … dann hat er meine Hand genommen.“ Sie hebt ihre Hand, die sie gerade noch schützend an sich gepresst hatte. Sie schaut sie an. Befremdlich. Als wäre das gar nicht ihre Hand. Als wäre das alles gar nicht real. Aber … wer weiß das schon? Vermutlich ist das auch alles gar nicht real. „Ich habe seine Berührung gespürt“, erzählt Nicole weiter. Starrt weiter auf ihre Hand. „Es hat sich schrecklich angefühlt. Als würde ich in Säure fassen.“ Sie schaut mich an. Ihr Blick ist völlig entrückt. Ganz weit fort. Die Tränen sind fort. Alles ist fort. Nicht ein Gefühl ist mehr in ihrem Gesicht zu erkennen. „Und dann hat er gesagt, dass er dafür sorgen wird, dass ich ihn niemals wieder verlassen werde … und es klang wie eine Drohung.“
Nicole und ich verbringen die nächste Zeit damit, zu lauschen. Wann immer die Luft verdächtige Geräusche mit sich trägt. Türen, die sich öffnen. Schritte. Murmeln. Worte. So finden wir heraus, dass wir im Krankenhaus liegen. Im Koma. Zumindest nehmen wir das an. Denn keine der Stimmen hat es wirklich ausgesprochen. Aber die Schnippsel an Eindrücken sprechen dafür. Vermutlich liegen wir sogar im selben Zimmer. Denn wir hören die Türen, die Schritte und die lauten Stimmen beide zeitgleich. Manchmal bekommt einer von uns Besuch. Meistens ist es Nicole, deren Eltern an ihrem Bett stehen. Dann höre ich zumeist nicht mehr als ein Murmeln. Außer, wenn ihr Vater da ist. Der senkt seine Stimme nicht und ich verstehe jedes Wort. Wenn ich Besuch bekomme, dann hört sie nicht mehr als ein Murmeln. Aber das kommt nicht wirklich oft vor. Nach den Besuchen schweigen wir immer betreten. Wir sind hier. In diesem grausamen Scherz einer Koma-Traumwelt. Unfähig, uns mitzuteilen. Unfähig, zu leben. Und wir warten auf den Moment, da sie auch bei uns die Geräte ausschalten, die uns noch am Leben halten. So, wie sie es bei Elli getan haben. Und dann … werden wir verschwinden.
Wir sind uns näher gekommen, über diese Zeit. Nicht nur körperlich. Uns verbindet eine Erfahrung, die kein anderer auf der Welt nachvollziehen kann. Und während ich sie bedingungslos liebe, gelingt es auch Nicole, ihr Herz nach und nach für mich zu öffnen. Irgendwann kommen auch mehr und mehr Erinnerungen zurück. So erinnert sich Nicole daran, wie sie heraus gefunden hatte, das mein Bruder sie betrügt. Obwohl sie ein Paar waren. Obwohl sie verlobt waren. Er vögelte sich durch die Gegend. Und als Nicole ihn damit konfrontieren wollte, habe er nur gelacht. Gelacht und mit den Schultern gezuckt. „Was willst du tun?“, habe er gefragt. Und da sie keinen Ausweg sah, hatte sie versucht sich umzubringen. „Damals war ich so dumm …“, erklärt sie. „Ich hatte geglaubt, dass er alles ist, was ich im Leben brauche. Und zu wissen, dass ich für ihn nur Eine von Vielen bin, brach mir das Herz. Ich glaubte, ich könnte nicht ohne ihn sein. Oh, wie sehr ich das bereuehe!“
Die Türe öffnet sich. Schritte. Nicole und ich drücken uns aneinander. Ahnungslos, was nun wieder geschehen wird. Und doch unfähig, diese einzige Verbindung nach Außen zu ignorieren. „Ah … Brüderchen“, hallt Adrians Stimme durch den Raum. Nicole und ich schauen uns fassungslos an. Er ist wegen mir hier!
Ein Stuhl wird quietschend über den Boden gezogen. Rascheln. Ich höre seine tiefe Stimme, als er leise zu mir spricht. Nicole schüttet den Kopf. Sie hört ihn nicht. Ich aber … ich habe beinahe das Gefühl, seinen warmen Atem auf meiner Wange zu spüren. In mir kocht eine unerklärliche Wut hoch. Verachtung. Hass. Das erschreckt mich. Adrian ist doch mein Bruder. Und er hat nicht wirklich was Böses gemacht. Er hat nur die Liebe meines Lebens betrogen, verletzt und bedroht. Wie schimm das auch ist, so hat es nicht wirklich was mit mir zu tun. Dennoch scheint mir der flammende Hass in mir etwas tief persönliches zwischen uns zu sein. „Wie läuft es, Brüderchen?“, raunt er mir zu. „Wann schickst du sie endlich zurück?“
Ich erinnere mich! Es ist, als sprünge eine bislang gut verschlossene Kiste einfach auf. Ich erinnere mich an diesen letzten Abend! Und ich erinnere mich, warum ich im Koma liege! Es ist seine Schuld!
Er hatte mich eingeladen. Kurz, nachdem seine geliebte Verlobte verschwunden war, hatte er mich eingeladen. Zum Essen. Bei sich in der Wohnung. Er hatte gesülzt, wie sehr er sie liebte und vermisse. Alles gelogen! Zu diesem Zeitpunkt war Nicole bereits längst gefunden und ins Krankenhaus gebracht worden. In das Krankenhaus, in dem er arbeitete. Er wusste, dass sie versucht hatte, sich umzubringen. Er wusste, dass sie im Koma lag. Das war mir jetzt klar. Aber damals … damals glaubte ich ihm. Und weil er mein großer Bruder war, zu dem ich aufschaute, obwohl er mir stets vorgezogen wurde, sprach ich ihm mein Mitgefühl aus. Weil ich ihm glaubte. Weil er mein Bruder war. Und ich versprach ihm, zu helfen. Ich versprach ihm, dass ich tun würde, was immer in meiner Macht stand. Und ich versprach ihm, dass ich seine Verlobte finden und zu ihm zurückholen würde. Egal, von wo. Ich wollte alles für ihn tun. Für meinen großen Bruder. Der mich brauchte. Zum ersten Mal in seinem Leben. Ich war entschlossen, ihn nicht zu enttäuschen. Er lächelte. Charmant. Süffisant. Und wenn ich mich jetzt daran erinnere, mit kalten Augen. Dann trug er den Nachtisch auf.
Nach den ersten Bissen wurde mir schwummrig. Ich blickte ihn irritiert an. Er saß mir gegenüber. Den Kopf auf die Hände gestützt. Der Nachtisch unangetastet. „Nun“, sagte er mit einem kalten Lächeln. „Das Problem ist, dass sie zwar leicht zu finden, aber schwer zurückzubringen ist“, erklärte er. Langsam stand er auf, ging auf mich zu. „Aber zum Glück gibt es Studien, dass Komapatienten miteinander kommunizieren können.“ Er zog meinen Kopf an meinen Haaren nach hinten, sodass ich ihn anschaute. Ich atmete schwer, kämpfte um jeden Moment des Bewusstseins. Er kam mir ganz nah. Ich roch den Wein auf seinem Atem. Sein Blick wirkte seltsam fremd. „Bring sie mir zurück! Sie gehört mir!“ Dann wurde es schwarz.
Ich schrecke aus der Erinnerung hoch. Nicole sieht sehr beunruhigt aus. Ich spüre die Wut in mir brennen. Dann lächel ich. „Lass mich mal was ausprobieren …“, sage ich. Dann schaue ich konzentriert auf meine Hand. Ich bewege ganz bewusst und angestrengt meine Finger, ziehe vier davon zur Innenfläche meiner Hand. Den Mittelfinger aber halte ich gerade. Ich spüre, dass mein Körper draußen dieser Bewegung folgt. Plötzlich knallt der Stuhl. Nicole zuckt zusammen vor schreck. Das „Du verdammtes Arschloch!“ das mein Bruder schreit, kann auch sie hören. Ich kichere. Dann aber raunt er mir wütend zu: „Das wirst du noch bereuen!“
„Was war das?!“, fragt Nicole entsetzt und ich halte meinen ausgestreckten Mittelfinger hoch. „Scheinbar hat mein echter Körper das auch ganz gut hin bekommen“, kichere ich. Als ich ihren befremdlichen Blick sehe seufzte ich. Dann erzähle ich ihr alles. Ich erzähle ihr, wie mein Bruder mich mit seinem ärztlichen Wissen ins künstliche Koma versetzt hat. Das ich so hier her kam. Und dass ich geschickt bin, um sie zu ihm zurück zu holen. „Aber woher konnte er wissen, dass wir uns treffen?“, fragt Nicole irritiert. Ich zucke mit den Schultern. Dann aber erinnere ich mich an etwas. „Da war eine Geschichte …“, beginne ich zögerlich. Und dann ist alles wieder klar. Ich erinnere mich an die Geschichte, die unser Großvater uns erzählt hatte. „Als wir noch sehr jung waren fiel unsere Großmutter ins Koma“, erkläre ich Nicole. „Adrian liebte sie abgöttisch und war besorgt, dass sie einsam war. Unser Großvater erzählte ihm dann immer, dass sie noch alles hören würde und mitbekäme. Und dass sie ja auch abends nicht einsam sei, weil der andere Komapatient, der mit ihr das Zimmer teilte, ihr in ihren Träumen Gesellschaft leistete. Als sie dann wieder aufwachte, bestätigte sie seine Geschichte. Aber ich weiß nicht, ob das wirklich gestimmt hat. Bei Adrian scheint es allerdings einen ziemlichen Eindruck hinterlassen zu haben, denn kurz darauf nahm er sich vor, Arzt zu werden.“ Nicole nickt. „Das hat er ja dann auch geschafft.“, bestätigt sie. Dann überlegt sie kurz und fragt: „Ist das der Grund, warum er sich auf Komabehandlung spezialisiert hat?“ Ich zucke mit den Schultern. „So im Nachhinein betrachtet macht das irgendwie schon Sinn. Er hat auch die Gehirnströme vieler Komapatienten gemessen und sie nach dem eventuellen Aufwachen befragt. Zumindest haben das meine Eltern in einigen der dutzenden Lobreden auf ihn erwähnt.“ Nicole schippst. „Ja! Ich erinnere mich wie sehr er sich gefreut hatte, dass die Messungen zweiter Patienten eine Angleichung der Hirnströme zeigte. Aber das bewies nicht wirklich was.“ Plötzlich zögert Nicole. Sie schaut mich an. Tiefe Traurigkeit in ihrem Blick. Mitgefühl. „Dass ihm das gereicht hat, um auf gut Glück seinen eigenen Bruder ins Koma zu versetzen … eine Geschichte und ein paar Messungen …“ Wir schweigen betreten.
Ich bin in Gedanken. Sie ist in Gedanken. Nach einer Weile greift Nicole meine Hand. „Und jetzt?“, fragt sie. Ich zögere. Ich erinnere mich an die Drohung meines Bruders. „Das wirst du noch bereuen“ … Ich zwinge mich zum Lächeln. „Genießen wir es, so lange es geht“, antworte ich schließlich. Nicole drückt sich an mich. „Wie lange das wohl noch sein wird …“, murmelt sie dann. Ich schließe meine Augen. Ich atme ihren Duft ein. Und seufzte.
Irgendwann ziehen Nicole und ich uns ins Schlafzimmer zurück, legen uns auf das große, gusseiserne Bett. Ich lege mich hinter sie, drücke mich zärtlich an ihren Rücken. Ich spüre ihren warmen, weichen Körper ganz nah an meinem. Ihr süßer Duft streichelt meine Sinne. Ich drücke sie noch fester an mich heran. Ihr Atem geht langsam und gleichmäßig. Sie bewegt sich nicht. Und ihr Gesicht ist mir abgewandt. Ich kann nichts darin lesen. „Willst du hier bleiben?“, höre ich sie schließlich murmeln. „Hm?“, erwidere ich abgelenkt. Ich höre sie traurig lächeln. „Ob du hier bleiben willst? Wo auch immer das ist.“ Eine leise Sorge steigt in mir auf. Ich drücke es weg. Zwinge mich zum Lächeln. Ich zuckte mit den Schultern. „Es ist nicht so schlimm. Wir haben unsere Ruhe, einander und keinerlei Geldsorgen“ Ich höre ein leichtes Kichern. Oh, wie gerne hätte ich es auch gesehen. Wenn sie so kichert, werfen ihre Augen kleine Lachfältchen und lassen sie nur noch schöner aussehen. Doch sie hört auf zu kichern. „Sie werden uns nicht ewig am Leben erhalten“, meinte sie schließlich. „Irgendwann werden sie uns aufgeben und uns gehen lassen. Und was dann passiert, haben wir bei Elli gesehen.“ Sie schniefte bei dem Gedanken an Elli. Dann drehte sie sich zu mir um. Ihre ungeweinten Tränen glitzerten in ihren haselnussbraunen Augen und ließen sie noch schöner wirken. „Sie werden uns aufgeben und wir verschwinden“, wiederholte sie deutlich. „Ja“, antwortete ich und strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht. „Willst du das?“, harke sie nach und ich zögere. Erneut kämpfe ich die Ahnung nieder, dass es bei mir bald so sein könnte. Adrian würde mich bald verschwinden lassen. Ich zwinge mich erneut zu einem Lächeln. „Was willst du denn?“, vermeide ich die Antwort. Ihr skeptischer Blick verrät, dass sie es durchschaut hat. Aber sie kuschelt sich trotzdem ganz fest an mich. „Ich will mit dir Leben. Richtig leben.“ Ich spüre eine tiefe Sehnsucht in mir aufsteigen. Der Gedanke, mit ihr zu leben, macht mich glücklich und ängstlich zugleich. Mit ihr leben. Verreisen. Den Alltag begehen. Eine Familie gründen. Und alt werden. Mein Herz schreit mit zwei Stimmen. Die eine brüllt ja! Immer wieder „ja!“ und will nichts mehr als das. Aber die andere Stimme tönt mit einem tiefen, unheilvollen Grollen, dass das nicht wahr werden kann. Ich streiche ihr durch das weiche Haar. Ich lächele. „Und mein Bruder?“, frage ich. Nicole schaut mich irritiert an. Dann lächelt sie. Als sei ihr gerade erst eingefallen, dass es meinen Bruder, ihren Exfreund, überhaupt gibt. „Der kann uns nichts tun. Nicht mehr.“ Ich küsse sie. Ihre Lippen sind so sanft. So süß. Und sie wecken in mir die Sehnsucht nach mehr. Sie löst sich aus unserem Kuss und sieht mich ernst an. Sie lächelt. Nun ist sie es, die mir durch das Haar streicht und mich ansieht, als würde sie sich jeden Zentimeter meines Gesichtes einprägen. „Ich will mit dir leben“, flüstert sie. „Lass uns gemeinsam aufwachen.“
Eine Träne rollt über meine Wange. Ich nicke. „Ja“, hauche ich mit erstickter Stimme. „Lass uns gemeinsam aufwachen.“ Ein Strahlen erscheint auf Nicoles Gesicht. Sie lächelt und doch weint sie. „Machen wir es jetzt gleich?“, fragt sie. „Wenn du das willst“, antworte ich. Mein Herz sticht. Ich lächel. Sie lächelt. Sie nickt. Dann schließt sie die Augen, konzentriert sich. Ich streichel über ihre Wange, spüre sie. Sie beginnt zu strahlen, zu schimmern. Dann löst sie sich mehr und mehr auf. Ist nur noch ein strahlender Schemen. „Ich liebe dich!“, platzt es aus mir heraus. Sie reißt ihre Augen auf, Lächelt, öffnet den Mund und scheint etwas zu sagen. Doch sie verschwindet, bevor ich es hören kann. Löst sich auf. Einfach so. Und ich bin allein.
Ich spüre, wie eine Welle der Traurigkeit über mich schwappt. Zweifel schleichen sich an. Hier konnte ich sie für mich gewinnen. Aber ob sie mich auch dort haben will? Im Leben. Und werde ich sie da endlich beschützen können? Ich seufze schwer. „Es gibt nur einen Weg, das heraus zu finden“, sage ich. Meine Stimme hallt klar durch den seltsam leeren Raum. Sie klingt ungewohnt. Dann schließe ich die Augen. Ich spüre in mich hinein. Versuche, all die verschiedenen Gefühle, die in mir um die Vorherrschaft kämpfen, zurück zu drängen. Die Angst. Die Sehnsucht. Trauer, Liebe, Aufregung und Sorge. Als endlich eine gewisse Ruhe in mir eingekehrt ist, streckt sich mein Bewusstsein nach meinem Körper. Ich weiß, dass ich ihn erreichen kann, ich habe das schon einmal geschafft. Aber dieses Mal muss ich mich so mit ihm verbinden, dass ich in ihn zurück kehren kann. Plötzlich ist da was! Ich spüre ihn, ich spüre meinen Körper. Leer. Als würde er auf mich warten. Ich blicke mich noch einmal um. Das Zimmer erscheint mir zugleich so unglaublich fremd und vertraut. Und dann lasse ich los.
Grelles Licht umfängt mich. Ich habe keine Orientierung mehr. Wo bin ich? Bin ich wirklich zurück gekehrt in meinen Körper? Oder bin ich versehentlich gestorben? Das grelle Licht beißt in meinen Augen. Ich bin träge, komme mir vor wie gelähmt. Doch nach und nach verklingt das Licht. Viel zu langsam wird es schwächer. Und dann schält sich ein Zimmer aus dem Weiß. Ein weißes, steriles Zimmer. Ich sehe Schläuche. Ich höre ein gleichmäßiges Pipen. Ein Pumpen. Ein Rascheln. Ich schaue mich um, bewege vorsichtig meinen Kopf. Es fühlt sich an, als hätte ich viel zu viel getrunken. Alles ist schwummrig. Aber als ich neben mich sehe, entdecke ich den Schemen eines anderen Bettes. Ich strenge mich an, es deutlicher zu sehen. Und nach und nach erfüllen meine Augen ihren Dienst. Ich sehe das Bett. Ich sehe die Geräte. Ich sehe die Schläuche. Ich sehe Nicole. Sie ist bleich. Abgemagerter als in der anderen Welt. Ihre karamellbraunen Haare sind ungewaschen. Aber ihre haselnussbraunen Augen funkeln. Und ihr Lächeln erstrahlt unter den Tränen des Glücks. „David“, flüstert sie. Ich erahne mehr, was sie sagt, als dass ich es wirklich hören kann. Und doch klingt ihre so vertraute Stimme in meinen Ohren. Ich lächel. „David“, wiederholt sie. „Ich liebe dich auch!“
Für diesen Augenblick bin ich glücklich. So unbeschreiblich glücklich! Wir sind hier! Wir sind lebendig! Und wir lieben einander! Alles andere wird sich geben. Muss sich geben. Zusammen schaffen wir alles! Meine Finger bewegen sich. Ich habe noch keine wirkliche Kontrolle, aber die Sehnsucht, Nicole zu berühren, feuert mich an.
Doch dann verändert sich etwas. Das Strahlen in Nicoles Augen erlischt. Ihr Lächeln verschwindet. Und all die Wärme in ihrem Gesicht verwandelt sich in Irritation. Ich kann sehen, wie sie vergisst. Wie sie vergisst, was geschehen ist. Wie sie mich vergisst. Wie sie uns vergisst. Mir ist, als würde ich jede ihrer Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit in ihren Augen kurz aufschimmern sehen, bevor sie auf ewig verlischt. Ich will toben, ich will schreien, ich will zu ihr! Ich will sie an all das erinnern, was geschehen ist! Aber mein Körper ist wie taub. Und meine Stimme gehorcht mir noch nicht. Ich bin gefangen! Gefangen in meinem eigenen Köper! Und ich kann nichts tun, als zu zusehen, wie ich aus ihren Erinnerungen verschwinde. Immer mehr. Bis das letzte bisschen fort ist. Als ihr Lächeln erneut auf ihrem Gesicht erscheint, hat es alle Wärme verloren. Es ist ein unsicheres Lächeln. Höflich. Und dann dreht sie ihren Kopf von mir weg. Und ich starre sie nur an. Fassungslos.
In die schreiende Stille meiner Gedanken mischt sich plötzlich etwas Neues. Ich spüre, wie die Dunkelheit ihre dürren, kalten Finger nach mir ausstreckt. Stück für Stück umfasst sie meine Erinnerungen und zieht sie langsam davon. Ich spüre, wie sie schwinden. Panisch versuche ich mich dagegen zu wehren. Ich versuche einen schützenden Käfig um diese kostbaren Erinnerungen zu legen. Ich darf nicht vergessen!! Ich muss mich erinnern! Und dann muss ich Nicole dabei helfen, sich zu erinnern! Wenn nur einer von uns das behält, was wir geteilt haben, dann ist es noch nicht vorbei! Doch unaufhaltsam greift sich die Dunkelheit mit ihren dürren Fingern eine Erinnerung nach der anderen. Erst vergesse ich Kleinigkeiten. Dann Situationen. Dann verschwindet Elli. Dann der Verrat meines Bruders. Nicole! Ich klammere mich an diese eine Erinnerung, an diesen Namen, an dieses Gefühl. An diese unaussprechliche, tiefe Liebe zu ihr. Diese erwiderte Liebe. Aber die dürren Finger der Dunkelheit umfassen auch sie. Umfassen meine Nicole. Meine Nicole! Und langsam und unerbittlich ziehen sie auch Nicole von mir fort! Vollkommen gleich, wie sehr ich mich wehre! Sie nehmen sie mir weg! Und dann … ist da nur noch eine kühle Leere. Nicht mehr. Und gebeutelt von Anstrengungen, an die ich mich gar nicht mehr so recht erinnern kann, schlafe ich erschöpft ein.
Irgendwann wache ich auf. Leute kommen in das Zimmer. Das hat mich wohl geweckt. Ein älterer Mann mit einer tiefen, lauten, durchdringenden Stimme. Zwei Frauen. Die Ältere weint. Die Jüngere packt irgendwelche Sachen aus dem Schrank und dem Nachtkasten des anderen Krankenhausbettes. In diesem andere Bett liegt eine junge Frau. Durch das Gewusel hindurch treffen sich unsere Blicke. Sie lächelt mich entschuldigend an. Zuckt mit den Schultern. Ich nicke ihr zu. Lächel sie an. Sie sieht nett aus. Dann drehe ich mich wieder um und starre an die Decke. Ich höre die ältere Frau jammern. Sie sagt immerzu „Nicole“. Ich drehe mich verstohlen um. Ob das der Name dieser jungen Frau ist? Naja. Geht mich ja nichts an. Da schwingt die Türe auf. Ein Arzt kommt rein. Ich brauche einen Moment, um ihn zu erkennen. Es ist Adrian. Mein Bruder. Ich spüre einen Stich in meiner Brust. Aber … warum? Liegt es daran, dass er mich gar nicht beachtet und gleich zu der jungen Frau geht? Vermutlich. Sie reden miteinander. Ich blende es aus, höre nicht hin. Stattdessen lehne ich mich in meinem unbequemen Krankenhausbett zurück. Ich schließe die Augen, versuche das bedrückende Gefühl eines vergessenen Traumes zu greifen. Aber … da ist nichts mehr. Dennoch … irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich niemals hätte aufwachen dürfen …
Es lärmt. Ich schrecke auf und blicke zu dem anderen Bett. Die junge Frau wird mitsamt des Bettes aus dem Zimmer geschoben. Unsere Blicke treffen sich ein weiteres Mal. Sie nickt mir förmlich zu. Ich erwidere den Gruß. „Tschüss“, sage ich. Es ist wohl eher ein unverständliches Murmeln. Ihre Augen flimmern. Es sind schöne Augen. Tief Braun. Sie dreht sich nochmal zu mir um, aber da sie immer weiter geschoben wird, verliert sich der Moment. Und sie verschwindet aus meinem Leben. Mein Bruder begleitet sie. Als er die Tür schließt, dreht er sich noch einmal um. Er sieht mich an. Sein Blick ist eiskalt. Dann fällt die Türe ins Schloss. Mit einem Mal ist es so ruhig in diesem kleinen Zimmer. Nichts ist mehr da. Außer das unbestimmte Gefühl, dass ich irgendwas vergessen habe. Ob es wohl etwas Wichtiges war?