In jedem Modul meines Studiums der Kunsttherapie musste ich eine Abschlussprüfung ablegen – so auch im künstlerischen Bereich. Die Prüfung beinhaltete, dass alle Studenten eines Jahrgangs eine große, gemeinsame Ausstellung organisieren sollten, die sich über die ganze Stadt erstreckte. Überall gab es Geschäftsleute, die sich dazu bereit erklärten, einem oder mehreren Studenten des etwa dreißig Personen umfassenden Jahrgangs Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen. Und nach der Vernissage konnten die Besucher der Ausstellung(en) durch Nürtingen wandern, auf der Suche nach immer neuen und grundverschiedenen künstlerischen Installationen.
Da sich jeder Student absolut individell ausdrücken konnte, fiel meine Wahl damals auf eine Darstellung meiner künstlerischen Vielfalt. Zentrum meiner Installationen, die sich in einer kleinen Nische eines Ateliers befand, war mein „Zelt„, wie ich es liebevoll nenne. Dies ist ein pompöses Kleid mit einem Unterrock von einem Meter Durchmesser, das aus vollkommen „gewöhnlichen“ Künstlermaterialien gefertigt ist: Leinwand und Gaze. Der Halsschmuck dieses Kleides war ein aufwändig gefertigtes „Collier“ aus kleinen Metallmuttern, die durch Ätzradierung mit einem Ornamentenmuster versehen wurden. Hinter dem Kleid stand ein mit Pastellkreide auf Sperrholz gemalter Spiegel, in dem sich eine Person, die das davor stehende Kleid trug, zu dem Betrachter umschaute. Flankiert wurde dieses Werk von zwei Vorhängen, auf denen ein Gedicht eingestickt war, das durch die Doppellagigkeit – erneut von Leinwand und Gaze – nur schwer zu entziffern war.
Was hat sich die Künstlerin dabei gedacht? Wie bereits erwähnt sollte dieses Werk meine Vielfältigkeit in sich vereinen. Auch, wenn die Professoren mir mehrfach – verständlicherweise – zur Reduktion geraten hatten, hatte jeder einzelne Teil dieser Installation eine besondere Bedeutung. Das Kleid stellte zugleich die mir wichtige künstlerische Ausdrucksform des Nähens dar, als auch meine Hingabe zum Romantischen – daher erinnert das Kleid an eine Mischung zwischen Prinzessinnen- und Hochzeitskleid. Zugleich sollte es aber auch die Schönheit im Alltäglichen zitieren. Denn wie pompös das Kleid auch wirkt, so ist es doch aus „gewöhnlichem Material“. Dieses Material für sich ist wiederherum eine Hommage an die Kunst: Leinwand ist für die malerische Kunst kaum wegzudenken. So wird die Kunst mitsamt ihren alltäglichen Materialien durch das aufwändige Design des Kleides sowohl aufbewertet als auch in den Fokus gerückt. Der Spiegel symbolisiert das Mögliche des Unmöglichen, das auch mehrfach in meinen Märchen behandelt wird. Zugleich ist er ein Zitat auf meine zahlreichen Pflastermalerwettbewerbe in Bodenwerder, zu denen ich damals jährlich in die Heimat zurück kehrte. Und nebenbei war Pastellkreide damals auch ein von mir sehr häufig und gerne benutztes Material. Die Vorhänge wiederherum zitieren – durch das gemeinsame Material – das Kleid, rahmen die Installation ein und bringen durch das Gedicht weiterhin meine literarische Hingabe zur Erwähnung, die sich mittlerweile sehr deutlich in der Veröffentlichung meiner Märchenbilderbücher zeigt.
Übrigens: Was wenig bekannt ist, dass ich diese Installation Jahre später in Form des Märchens „Das Mädchen im Spiegel“ wieder aufnehme. Darin geht es um ein Mädchen aus ärmlichen Verhältnissen, das sich in spiegelnden Flächen stets überaus fein gekleidet sieht. Zumindest so lange, bis sie tatsächlich ein fein wirkendes Kleid (aus Sackleinen und Glas) trägt, und sich plötzlich in ihrer normalen, ärmlichen Gestalt gespiegelt sieht.