Schloss Berlepsch

Im Rahmen einer Initiative der „Burgen und Schlösser“ kam die Familie von Berlepsch im Februar 2021 mit der Anfrage auf mich zu, ob ich ihrem Stammsitz „Schloss Berlepsch“ ein „Haus- und Hofmärchen“ schreiben wolle.

In der Folge las ich mich in die beeindruckende Historie dieses seit mehreren Jahrhunderten im Familienbesitz befindlichen Schlosses ein. Um nicht unnötig mit den Fakten zu kollidieren, entwickelte ich ein Entstehungsmärchen der Familien von Berlepsch, das zeitlich vor den offiziellen Aufzeichnungen spielten sollte. Dadurch nahm ich den Fokus von dem Schloss selbst und legte ihn auf die Werte und die Essenz der Familiengeschichte.

Das fertige Ergebnis wurde von der Familie von Berlepsch sehr positiv aufgenommen und wird hoffentlich noch in unterschiedlicher Form weiter getragen werden.

Seit Mai 2023 gibt es auch eine gedruckte Version mit einigen schlichten Illustrationen. Sie ist bei der Autorin oder über Amazon zu erhalten.


Joachim und die Bärentochter

– die Anfänge der Familie vom Schloss Berlepsch –

Hoch über den Lindenkronen des Werratals thront ein altehrwürdiges Schloss. Es thront dort seit hunderten von Jahren als ein Denkmal für Beständigkeit und Wandel gleichermaßen. In all dieser Zeit hat es so mancherlei erlebt und so mancherlei gesehen. So horch! Wenn du ganz achtsam lauschst, so erzählen dir die alten Steine, die vom Wind gestreichelt werden, ihre Geschichte. Eine Geschichte von Sittigen und Sparren. Eine Geschichte von Geschick und Klugheit. Eine Geschichte von tapferen Müttern und ritterlichen Tugenden. Die Geschichte der Familie von Berlepsch.

Diese Geschichte, die jene alten Mauern erzählen, begann weit vor der Zeit, da die Schriftstücke Zeugnis tragen. Und sie begann gar weit entfernt von dem Schloss, das diese Legende weiterträgt. Sie begann mit einem Knaben, der auf den Namen Joachim hörte. Joachim lebte ein ruhiges und friedliches Leben, umgeben von seiner Familie, die ihn spürbar liebte. Und in diese Liebe waren Werte eingeflochten, die den Knaben sein Leben lang begleiten sollten. Joachim lernte, Mitgefühl zu haben und sich für jene einzusetzen, die schwächer waren. Er lernte, weise und gerecht zu entscheiden. Er lernte, klug und bedächtig zu handeln. Und er lernte, demütig zu sein gegenüber der Welt. Während er all dies lernte, erwuchs aus dem Knaben ein stattlicher Jüngling. Er begab sich wie bereits seine Vorväter in den Dienst des Landes und ward zu einem tapferen und redlichen Ritter. Als dieser Ritter zog er hinaus in die Welt.

Auf seiner Reise überstand Joachim gar mancherlei Abenteuer und traf so manch treuen Freund. Er lernte Dinge, die gar ungewöhnlich schienen, und sah Wunder, deren Beschreibung jegliche Worte spottete. Und stets setzte er sich dafür ein, dass er einen jeden Ort ein Stück besser verließ, als er ihn vorgefunden hatte. Dabei nutzte er die Werte und Geschicke, die seine liebende Familie ihm vermittelt hatte. Er blickte auf niemanden hinab, nicht Mensch noch Tier. Er hörte zu und nahm sich Zeit, um zu verstehen. Und er ließ die Notwendigkeit zurück, sich um seiner selbst willen zu präsentieren.

Das Abenteuer aber, dass all diese Talente am meisten forderte und sein weiteres Leben am nachhaltigsten prägte, betrug sich nicht in den Weiten der Welt, sondern in einem kleinen Dorf mit dem Namen Barlewissen.

Barlewissen lag im Südwesten der Stadt, die uns heutzutage als Göttingen bekannt ist. Und als Joachim mit seinen Gefährten in diesem Dorf ankam, war es mit Furcht und Kummer angefüllt. Die Reisenden fragten, was denn der Grund für das Leid sei, und die Bewohner berichteten, dass sich im nahen Wald Bären befänden. „Sie kommen des Nachts, plündern unsere Häuser und reißen unsere Tiere! Und wann immer tapfere Recken ausziehen, um sie zu vertreiben, verlieren diese ihr Leben durch einen Prankenhieb!“, klagten die Dörfler ihr Leid. Und als diese jammervollen Tränen Joachims Herz erreichten, versprach er, sich der Bären anzunehmen. So ging er mit seinen Gefährten in den nahen Wald. Bald erreichten sie eine Lichtung, auf der eine mächtige Bärin saß und mit wachsamer Ruhe ihre drei spielenden Jungtiere betrachtete. In ihrer Mitte aber, nah bei der Bärin, saß eine feine Jungfer, die in ein langes, weißes Kleid gehüllt war. Sie saß auf einem Baumstumpf und schaute mit sanftem Blick auf ihre Hände, die strahlende Sommerblumen ineinander verflochten. Als Joachim diese Jungfer sah, machte sein Herz einen leisen Sprung. Und als hätte sie diesen Sprung gehört, blickte die Jungfer auf und sah mit ihren lindenholzbraunen Augen in das Dickicht, in dem sich Joachim und seine Gefährten verbargen. Joachim war, als suchten ihre Augen die seinen. Und er ahnte, dass ihm diese Jungfer eines fernen Tages alles bedeuten würde.

Da drohte das Dickicht zu rascheln, als einer der Gefährten im wagemutigen Leichtsinn aufzuspringen versuchte, um die Bärin und ihre Jungtiere zu einem tödlichen Kampf herauszufordern. Joachim aber legte ihm geschwind eine Hand auf die Schulter und drängte ihn zurück. „Still!“, zischte er seinem Gefährten zu. „Eine Schlacht wie diese will mit Klugheit und Geduld begangen sein!“ So schlichen die tapferen Ritter von der Lichtung fort an einen Ort, an dem sie ihre Pläne fassen konnten. Dort sprachen sie ernste Worte miteinander. Einer von ihnen sprach im Übermut: „Die Überraschung war auf unserer Seite! Wir hätten das Getier gleich erschlagen sollen, dann wäre Frieden gewesen in diesem armen Dorf! Was bringt’s zu zögern!?“ Joachim jedoch blieb besonnen und dachte lange nach. „Irgendwas will mir nicht ganz gefallen an der Geschichte“, gab er schließlich zu. Doch was es war, vermochte er nicht zu sagen.

So warteten Joachim und seine Gefährten einige Tage in dem Dorf Barlewissen. Doch auch, wenn die Straßen am Morgen auf Bärenart verwüstet waren, gelang es ihnen nicht, die Bären bei ihrem Treiben zu bezeugen. Da haderte Joachim mit sich. Er verstand, was die braven Bürger von ihm und seiner Ritterehre erwarteten. Und er wusste, dass seine Gefährten mit ihm in den Kampf gegen das mächtige Bärentier ziehen würden. Und doch war irgendwas nicht rechtens.

Eines Morgens erwachte Joachim bereits zu früher Stunde. Ihm war im Traum, als sängen ihm die Vögel ein Lied von Heimat. Und weil er sich keinen Reim darauf machen konnte, kleidete er sich an und schritt in die frische Morgenluft hinaus. Sein Weg führte ihn immer tiefer in den Wald, bis er am Rande der Lichtung stand. Da trat die Bärin heraus aus der Höhle, in der ihre Jungtiere und die Jungfer lagen. Ganz so, als habe sie ihn kommen hören. Lange stand sie nur da, den Blick ihrer klugen Augen gen Dickicht gewandt. So lauerten sie beide. Die Bärin vor der Höhle und Joachim im Schutze der Bäume. Schließlich aber seufzte Joachim und trat auf die Lichtung. Die Bärin spannte ihre Muskeln an und schob ihren Körper schützend vor die Höhle. Ihre Lefzen zitterten in einem grollenden Knurren. Joachim aber verneigte sich.

„Guten Morgen, Mutter Bär“, grüßte er das wilde Tier, ohne sich weiter zu nähern. „Ich bedauere, Euch zu stören, doch es gibt ein dringliches Anliegen, dass ich mit Euch zu bereden habe.“ Joachim wusste nicht, was er sich von alledem erwartete. War ihm doch klar, dass ein Tier vor ihm stand und kein vernunftbegabter Mensch. Und doch, was immer er erwartet hatte, es hatte nichts mit dem gemein, was geschah: Die Bärin hörte auf, die Lefzen zu kräuseln, und bedachte ihn mit einem misstrauischen Blick. Dann ließ sie sich schwer auf ihren Hintern fallen, reckte den Hals und wies auf den Baumstumpf in der Mitte der Lichtung. Verwundert und vorsichtig tat Joachim, wie ihm geheißen war. Etwas verunsichert nahm er auf dem Baumstumpf Platz und erwiderte versöhnlich den fordernden Blick der Bärin. Diese schnaubte. Joachim verstand dies als Aufforderung, mit seiner Rede fortzufahren. Er räusperte sich. „Die Dorfbewohner von Barlewissen sind besorgt, dass Ihr des Nachts durch die Straßen wandert, die Häuser plündert, die Tiere reißt und ihre tapferen Recken tötet“, erklärte er. Da knurrte die Bärin verächtlich. Und eine sanfte Stimme erklang aus der Höhle: „Wenn Eure teuren Dorfbewohner ihr Leben wahren wollen, sollten sie aufhören, eine Mutter und ihre Kinder zu bedrohen.“

Als sie so gesprochen hatte, trat die Jungfer mit den lindenholzbraunen Augen und dem weißen Gewand aus dem Schatten der Höhle. Sie streckte ihre zierlichen Hände aus und vergrub sie kraulend in das Schulterfell der Bärin. Diese schloss kurz die Augen und gab ein genussvolles Gurren von sich. Dann wandte sie sich wieder mit lauerndem Blick dem seltsamen jungen Mann zu. Dieser aber hatte nur Augen für die Jungfer. „Was meint Ihr?“, fragte er mit ehrlichem Erstaunen. Die Jungfer reckte ihren Hals in stolzer Geste. „Wir suchen weder das Dorf heim, noch plündern wir die Häuser. An ihren Tieren haben wir kein Interesse und die Männer starben, da sie unsereins bedrohten. All diese Lügen sollen nur dazu dienen, uns aus unserem angestammten Wald zu vertreiben. Nun sage mir, Ritter, wer ist im Unrecht? Wir, die wir hier friedlich leben, oder jene, die uns heimsuchen?“ Da schwieg Joachim eine Weile. Schließlich nickte er. „Lasst mich eine Weile über diese Worte nachsinnen und sie mit den Dorfbewohnern teilen“, sagte er und zog von dannen, um über das Gehörte zu sinnieren.

Die Sonne stand im Zenit, als er nach einem langen Waldspaziergang ins Dorf zurückkehrte. Die Bewohner empfingen ihn überaus freudig, denn sie hatten gefürchtet, dass auch dieser tapfere Kämpfer ein Opfer der Bären geworden war. Er aber bat sogleich, mit dem Dorfobersten zu sprechen, und legte ihm das Erlebte dar. „Nun steht eine Aussage gegen eine Aussage“, schloss er die Erzählung. „Es ist leicht, nun eine Entscheidung zu treffen, doch es wird nie gewiss sein, ob es die rechte war. Daher möchte ich Euch, edler Dorfoberster, bitten, mit mir zu der Bärin zurückzukehren, um zu erfahren, was die Wahrheit ist.“

Der Dorfoberste war natürlich empört über diese ungerechten Worte. Wie absurd erschien es ihm, mit einem Bären zu verhandeln! Doch Joachim hielt seinem Blick stand und der Dorfoberste haderte. Wollte er sich doch keinesfalls vorwerfen lassen, nicht alles versucht zu haben, um den Frieden in sein Dorf zurückzuholen. Sei es auch etwas derart Lächerliches, wie das Gespräch mit einem Tier zu suchen. Und so erklärte er sich schließlich dazu bereit, sich für einen Schlichtungsversuch mit der Bärin zu treffen. Zusammen mit Joachim und zwei Begleitern machte er sich auf den Weg zu der Lichtung. Dort trafen sie auf die Bärin und die Jungfer, die sie zum Gespräch begrüßten. Als Zeichen der Gastfreundschaft hatten sie Beeren und Tau auf den Baumstumpf gelegt. Und so begannen die mühseligen Gespräche.

Joachim griff ein ums andere Mal schlichtend in den Wortwechsel ein. Und obgleich sie sich nicht auf eine gemeinsame Wahrheit einigen konnten, so gelang es ihnen doch, einen vorläufigen Frieden zu schließen. Der Dorfoberste versprach, dass keine Jungspunde zur Bärenjagd mehr ausgesandt würden. Und die Bärin versprach, dem Dorf nicht nahe zu kommen. Und so gingen sie auseinander. Beiden Seiten war klar, dass bei diesem Treffen keine endgültige Lösung gefunden worden war, doch Joachims Schlichtung hatte den Konflikt zumindest für eine Zeit abschwächen können. Nun würden die nächsten Wochen über den sensiblen Frieden entscheiden.

Als sie die Lichtung ein Stück weit hinter sich gelassen hatten, nahm Joachim den Dorfobersten zur Seite und flüsterte ihm ein paar wohlgemeinte Worte zu. Er erklärte, dass der geschlossene Frieden die Wahrheit nicht gänzlich erschlossen habe. Und so wäre es klug, Vorkehrungen zu treffen. Er regte an, dass auf den Wegen ins Dorf und in den Straßen des Abends Sand ausgelegt werden sollte. Und wessen Spuren am Morgen auch immer dort zu finden seien, wären die jenes Übeltäters, der für die Verwüstungen verantwortlich sei. Auch sollten sich tüchtige Jünglinge finden, die Wache halten sollten. So ward es getan.

Es dauerte kaum eine Woche, da waren die Häuser erneut geplündert und ein weiteres Tier war geschlagen. Nun aber waren im Sand deutliche Fußspuren zu sehen, die nichts mit denen eines Bären gemein hatten. Und auch die Wächter hatten keine Tiere gesehen, sondern nur in die Dunkelheit gehüllte Gestalten. Und so hielt Joachim selbst Wache. Er spannte dünne Schnüre in den Straßen, die in seine Kammer führten und dort an einem kleinen Glöckchen endeten. Wer immer an diese Schnüre käme, würde das Glöckchen zum Klingen bringen und somit seine Anwesenheit kundtun.

Joachim ward weit nach Mitternacht von dem leisen Glöckchen geweckt. Er nahm sich Schwert und Wams und schlich hinaus in die Dunkelheit. Er erblickte alsbald die Gestalten und folgte ihnen leise nach. Sie schleppten ein weiteres Mal Diebesgut fort bis tief in den Wald und hinterließen ein gerissenes Tier im Graben. Doch nicht zur Bärenlichtung führte ihr Weg, sondern ins tiefste Unterholz, wo sie eine Hütte als Quartier hatten. Dort saßen lachende Männer am Feuer und Berge von Diebesgut türmten sich neben ihnen auf. Die Männer stießen mit Bier auf ihre List an und freuten sich, dass die Dorfbewohner durch ihre Angst vor den Bären blind waren für die Wahrheit. Joachim beobachtete alles genau, als er plötzlich einen vertrauten Blick auf sich spürte. Er kniff die Augen zusammen und suchte das gegenüberliegende Dickicht ab, als er die Jungfer erblickte. Sie legte den Finger auf ihre vollen Lippen und nickte gen Norden. Joachim verstand. Mit leisen Schritten machte er sich auf den Weg, um die Jungfer zu treffen.

„Was machst du hier?“, flüsterte er ihr zu, als er sie in sicherem Abstand zu dem Banditenlager traf. Sie erklärte, sie habe sich selbst auf die Suche nach der Wahrheit machen wollen. Als Joachim nach ihrem Grund fragte, lächelte sie verlegen. „Seit so langer Zeit kommen Leute und bedrohen unser Leben aufgrund haltloser Gerüchte. Sie greifen uns an, ohne sich für unser Erleben zu interessieren. Du aber warst der Erste, der nach unserer Seite gefragt hat. Du warst der Erste, der sich dazu bereit erklärte, vorurteilsfrei zu vermitteln. Da verstand ich, dass auch wir uns auf die Suche nach der Wahrheit machen können. Und so wachten meine Familie und ich über das Dorf und folgten den Banditen, die uns ihre Schandtaten anhängen wollen.“

Joachim reichte ihr die Hand. „So lass uns gemeinsam gegen die Banditen ziehen“, bot er an. Die Jungfer zögerte einen Moment und schaute auf seine Hand. Dann aber stimmte sie gerne mit einem Handschlag in diese Partnerschaft ein. Joachim genoss die Wärme ihrer zarten Haut, die auf ihn überfloss. Und er hätte sie am liebsten nimmermehr losgelassen. Da blickte er ihr in die lindenholzbraunen Augen und lächelte ihr zu. Schließlich fragte er: „Nun, da wir Gefährten sind, bitte ich dich, dass du mir deinen Namen nennst.“ Und die Jungfer antwortete, dass er sie Sitta nennen solle.

So berieten sich Sitta und Joachim, wie sie mit den Banditen verfahren sollten. Sie entschieden, dass sie zunächst den Dorfbewohnern Bericht erstatten wollten. Aber damit diese ihnen Glauben schenkten, bräuchten sie wohl einen Beweis. Und so schlichen sie erneut zum Lager, um ein Stück aus dem geraubten Schatz mit sich zu nehmen.

Die geraubten Schätze lagen auf der Grenze zwischen dem schattigen Waldrand und dem Lagerfeuer, wo sich die berauschten Banditen mittlerweile zum Schlafen gelegt hatten. Nur einige von ihnen hielten noch im Beisein eines Hundes Wache. Da sie diese Wachen besser meiden sollten, nährten sich Sitta und Joachim vorsichtig und achtsam immer näher an. Endlich waren sie angekommen und mussten schnell ein markantes Schmuckstück ausmachen. Gerade als Joachim nach einem Brokattüchlein mit aufgesticktem Stadtwappen griff, kam der Hund der Banditen witternd auf sie zu. Er stockte, blickte auf und begann, bedrohlich zu knurren. Joachim spürte, wie Sitta ihre Hand auf seinen Arm legte. Einer der Wächter wandte sich dem knurrenden Hund zu. „Ist da was?“, fragte er den Hund. Sittas Griff um Joachims Arm verstärkte sich. „Nimm das Tuch!“, zischte sie. „Und dann nichts wie weg.“ Der Wächter aber hatte sich bereits in Bewegung gesetzt. „Ist da wer?“, fragte er in Richtung der Dunkelheit und kniff die Augen zusammen. Da er so lange dem Feuer zugewandt gewesen war, konnte er in den Schatten des Waldes nichts erkennen. Und das war ein Glück für Sitta und Joachim, die unter dem wütenden Bellen des Hundes aufsprangen und zurück in den Wald stürzten. Der Hund jagte hinterher. Seine Lefzen bebten und Speichelfäden flossen von seinen Zähnen. Er jagte Sitta und Joachim immer weiter. Und auch einige der Wächter kamen nun hinterher.

Sitta, die in dem Wald aufgewachsen war, zog Joachim auf ihrer zielsicheren Flucht hinter sich her. Das beginnende Zwielicht des anbrechenden Tages erleichterte ihnen, ihre Schritte zu setzen, und hielt sie zugleich noch vor ihren Verfolgern verborgen. Immer wieder warf Sitta einen Blick zurück, doch der Hund holte unerbittlich auf. Da knirschte Sitta mit den Zähnen und schob Joachim von sich fort. „Lauf! Wir treffen uns im Dorf!“, schnaubte sie und rannte in die entgegengesetzte Richtung. Joachim tat, wie ihm geheißen, und hoffte, dass der Hund ihm folgen würde. Auf einmal aber hörte er ein unmenschliches Brüllen, ein jämmerliches Fiepen und plötzlich Stille. Er blieb schlagartig stehen. Mit panischem Blick suchte er den Wald nach einem Zeichen von Sitta ab. Aber alles, was er hörte, waren die Banditen, die sich durch das Unterholz schlugen.

Vollkommen außer Atem erreichte Joachim das Dorf. Er rief sogleich die Dorfbewohner zusammen und berichtete von seinem Fund. „Nicht die Bären noch die Dorfbewohner sind hier Ursache des Streits. Banditen leben im Wald und bedienen sich eurer Uneinigkeit“, erklärte er und präsentierte als Beweis das Brokattüchlein, das die Frau des Dorfobersten sogleich als das ihrige erkannte. Da baten die Dorfbewohner, dass Joachim und seine Gefährten die Banditen vertrieben, sodass wieder Ruhe und Frieden in Barlewissen einziehen mögen. Er nickte. „Ich breche auf, sobald ich Sitta gefunden habe. Bevor ich nicht weiß, dass sie wohlbehalten ist, werde ich nicht in den Kampf ziehen.“

Da trat Sitta aus der Menge. Ihre Haare waren zerzaust und ihr weißes Gewand zerrissen und blutbefleckt. Joachims Herz stockte. Er eilte ihr entgegen und schaute nach Wunden. „Ich bin unverletzt“, beruhigte sie ihn. Dann lächelte sie. Und dieses Lächeln erinnerte Joachim daran, dass ihm diese Frau eines nicht gar so fernen Tages alles bedeuten würde. Sie lehnte sich ihm entgegen und nahm seine Hände. „Lass uns diese Banditen gemeinsam vertreiben“, schlug sie ihm vor.

So näherte sich die kleine Gruppe nach kurzer Vorbereitung dem Banditenhort. Einige der Banditen schliefen ihren Rausch aus. Doch die Wachen und einige andere waren in ein hitziges Gespräch vertieft, darüber, ob ihr im Wald gerissener Hund ein Zeichen sei, dass sie weiterziehen sollten, um das nächste Dorf mit ihrer List zu plündern. Da schlug einer von Joachims Gefährten im Flüsterton vor, die Banditen einfach ziehen zulassen. Ein Kampf ginge nicht ohne Blutvergießen vonstatten und zögen sie aus freien Stücken fort, herrschte in Barlewissen ebenfalls Frieden. Doch Joachim schüttelte den Kopf. „Ob sie hier oder in einem anderen Dorf ihr Unwesen treiben, ist einerlei. Es ist unsere Verantwortung, sie festzusetzen und der Gerichtsbarkeit zu übergeben.“ Dann ersann er einen Plan und weihte seine Begleiter ein. Er gab ihnen Zeichen und sie verteilten sich um das Lager herum. Zugleich sollten sie zugreifen, sodass die Banditen keine große Möglichkeit zur Wehr hatten.

Vorsichtig schlichen sich Sitta, Joachim und seine Gefährten von verschiedenen Punkten in das Lager. Jeder von ihnen hatte die Waffen zum Kampf gezogen. Sie wollten so tief wie möglich eindringen, bevor sie angriffen. Joachim war’s, der den ersten Banditen mit dem Schwert niederstreckte. Als dessen Körper schwer zu Boden fiel, bemerkte dies ein anderer Bandit. Jener zog sein Schwert und schlug Alarm. Dann jagte er auf Joachim zu.

Die Banditen waren in der Überzahl, aber von Alkohol und Müdigkeit geschwächt. Sie lieferten einen schweren Kampf und verwundeten einige der Gefährten. Joachim kämpfte tapfer. Seine Zeit als Ritter hatte seine Fertigkeiten wohl geübt. Doch die Mühen der letzten Tage und der Mangel an Schlaf forderten ihren Tribut und als drei Banditen zugleich auf ihn stürzten, fiel es ihm schwer, die Schläge zu parieren. Immer unerbittlicher folgten die Hiebe. Und Joachim musste sich immer weiter zurückziehen. Dabei ward er mehr und mehr in die Richtung eines vierten Banditen gedrängt, der sich bereits zum hinterhältigen Schlag bereit machte. Erst im letzten Moment sah Joachim das erhobene Schwert hinter sich. Doch anstatt von einem scharfen Schwerthieb, ward er von einem weichen Körper zu Boden gerissen.

Sitta hatte gesehen, in welcher Gefahr sich Joachim befunden hatte, und war ihm zu Hilfe geeilt. Sie hatte ihn umgestoßen und blickte nun auf die Banditen, die sie und Joachim umgaben. Ihre Haut begann zu flimmern, wie Luft in der Hitze. Um sie herum formte das wirre Licht die mächtige Gestalt eines Bären. Sie öffnete den Mund und brüllte furchteinflößend in der Stimme eines Bären. Die Banditen zögerten. Und im nächsten Moment stürzte die Bärin aus dem Unterholz, um ihr Junges zu beschützen.

Als die Bärin zu wüten begann, war der Kampf alsbald siegreich beendet. Die verbliebenen Banditen ergaben sich und wurden der Gerichtsbarkeit von Barlewissen übergeben. Die Schätze wurden den Dorfbewohnern zurückgegeben und in ihrer Erleichterung bedankten sie sich überschwänglich. Sie entlohnten Joachim und seine Gefährten großzügig. Sitta und den Bären wiederum versprachen sie einen aufrechten und dauerhaften Frieden. Dann wurde in dem Dorf ein dreitägiges Fest gehalten. Die Wahrheit war gefunden. Und Barlewissen war nunmehr sicher.

Nachdem sich der Staub der Schlacht gelegt hatte und die Anstrengungen sich in eine feierliche Erleichterung gewandelt hatten, standen Joachim und Sitta etwas abseits beieinander. Sie schwieg. Er betrachtete sie forschend. „Was habe ich dort auf dem Schlachtfeld gesehen?“, fragte er schließlich. „Eines Bären Tochter“, antwortete Sitta mit gesenktem Blick. „Wir entspringen einem langen Geschlecht an Wächtern des Waldes“, erklärte sie weiter. Und dann erzählte sie, dass es dieser Wächter einige gäbe. Sie hätten vielerlei unterschiedliche tierische Gestalten, doch alle hundert Jahre würde einer ihrer Nachkommen in der Gestalt eines Menschen geboren und führte das Leben eines Menschen. Zugleich erbten sie die Talente ihrer Linie und gäben sie an ihre Kinder weiter. „Ich bin der menschliche Nachkomme unserer Linie“, schloss sie ihre Erzählung. Da lächelte Joachim und tat einen vorsichtigen Schritt auf sie zu. Er beugte sein Knie und nahm zärtlich ihre Hand, um einen Kuss darauf zu hauchen. „Es ist mir eine Ehre, dich kennengelernt zu haben“, sagte er mit einem Lächeln.

Joachim begleitete Sitta zurück auf die Lichtung, wo sich die Bärin mit ihren drei Jungtieren befand. Joachim schien es ganz so, als zwinkerte die Bärin ihm zu. Dann kam sie ihm ein paar Schritte entgegen und beugte ihr Haupt ein kleines Stück. „Du hast wohl getan, Mensch“, brummte die Bärin schließlich. „Du hast Großmut und Weisheit bewiesen. Geduld, Verstand und Geschick.“ Joachim lächelte, aber er schwieg. Erfreut über die wohlwollenden Worte dieses Wächters des Waldes. So fuhr die Bärin fort: „Ich will dich für deine redliche Tat belohnen. Von nun an soll dein Geschick als Schlichter und Zeuge von der Welt gesehen und gelohnt werden. Wer immer dich und deine Nachkommen antrifft, soll euer redliches Handeln mit Hochachtung, Ehre und großem Lohn bedenken. Dein Geschlecht soll die Zeit überdauern und zu hohem Ansehen und Wohlstand gelangen. Und um dies zu sichern, biete ich dir meine Tochter zum Geleit. Denn ich sehe, dass ihr einander wohl zugetan seid.“ Da fand Joachims Hand die von Sitta und sie lächelten einander voller Zuneigung zu. Und sie wussten, dass sie sich eines baldigen Tages alles bedeuten würden.

Nicht lange danach wurde Hochzeit gehalten zwischen der Bärentochter und Joachim. Die dankbaren Dorfbewohner und die Bärin mit ihren Jungtieren feierten diese Verbindung. Und der Dorfoberste verlieh dem jungen Paar den Namen „Haus von Berleip“.

Das junge Paar verlebte glückliche Jahre. Sie waren einander ebenbürtig und behandelten sich mit Respekt und Liebe, wie sie es von ihren Familien gelernt hatten. Und schließlich bekamen sie ihren ersten Sohn, den sie Cunradus nannten. Als sie ihren Sohn in ihren Armen wiegten, wussten sie, dass sie ihm die noblen Werte des Hauses von Berleip lehren würden. Sie würden ihn lehren, zu lieben und Mitgefühl zu haben. Sie würden ihn lehren, klug und bedächtig zu handeln. Und sie würden ihn lehren, demütig zu sein gegenüber der Welt. Und Joachim blickte voller Liebe und Stolz auf seinen Sohn. Er küsste seine Frau, die ihm alles bedeutete, und flüsterte die Wünsche, die er für seine Familie hegte, in den Wind.

Dieser Wind streift auch jetzt, viele Generationen später, noch über die Mauern jenes altehrwürdigen Schlosses, das dereinst nach vielen Unruhen, Wendungen und Geschicken des Lebens der Stammsitz der Familie von Berleip sein sollte. Dutzende von Geschichten sollten noch geschehen, bevor die Familie vom Hause Berleip hoch über den Lindenkronen des Werratals ihre angestammte Heimat fand, und ihr Name sich in „von Berlepsch“ wandelte. Die Heimat aber, die sie dort fanden, ward Schauplatz von noch hunderten weiterer Geschichten. Geschichten von Rittern und Dichtern, Schriftstellerinnen und Gottesdienerinnen, Raufbolden und Halunken. Geschichten von tüchtigen Geschäftsleuten, wagemutigen Wüstlingen, tapferen Müttern, klugen Vordenkern und frühen Emanzipatorinnen. Über Jahrhunderte hinweg begleitete dieses Schloss über den Lindenkronen des Werratals die Familie von Berlepsch als deren Stammsitz durch die unterschiedlichsten Epochen. Es begleitete sie durch gute, schlechte, friedliche und aufgewühlte Zeiten. Und dabei unterzog es sich selbst einem ständigen Wandel. Einstig eine wehrhafte Feste ward das Schloss zu einem wohnlichen Heim und einer gewichtigen Kulturstädte. Und so fand Schloss Berlepsch seinen Platz in der Welt. Als Zeuge einer alten Zeit und Tor in eine glorreiche Zukunft ist Schloss Berlepsch eine Heimat für jene, die ihr Leben in den Dienst der redlichen Tugenden der Familie von Berlepsch stellen wollen.

2 Antworten auf „Schloss Berlepsch“

  1. Sehr geehrte Frau Baer,
    Meine Freundin heiratet auf Schloss Berlepsch und auf der Suche nach einem schönen Geschenk bin ich auf Ihr Märchen gestoßen.
    Gibt es die Möglichkeit dies in gedruckter Version zu kaufen?
    Die Hochzeit ist bereits am 19.5.23, entsprechend wenig Zeit bleibt leider nur noch für die Umsetzung.
    Vielen Dank im Voraus
    Mandy Gottemeier

  2. Hallo Frau Gottmeier,

    Tatsächlich ist eine gedruckte Ausgabe des berlepscher Märchens nun auch bei Amazon oder über mich erhältlich. Sollte also nach wie vor Interesse bestehen, müsste es noch rechtzeitig zur Hochzeit ankommen. Ich hoffe, es gefällt und würde mich über eine Rückmeldung freuen, wie es bei dem Brautpaar angekommen ist.

    Mit freundlichen Grüßen,
    Marie Bär

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