01.11.2025 Mistelfest

Ich war am 01.11.2025 beim zweiten Mistelfest in Hofheim am Taunus auch wieder dabei.

Wie bereits letztes Jahr war ich auch am 01.11.2025 erneut ein Teil des
Mistelfestes in Hofheim am Taunus. Das Wetter war uns dieses Jahr nicht
wirklich hold, aber das schöne Zelt mit den Strohballen war wieder sehr
angenehm.
Dieses Mal war ich nicht im Hof des Gemeinschaftszentrums, sondern auf der
Hauptstraße direkt neben dem Stand mit den Schaffellen ... inklusive Schafen.
Und zwei zwei Wochen alten Lämmchen! Die waren so süß! Und da es noch eine
Weile bis zu meiner ersten Lesezeit war und noch nicht so viele Besucher da
waren, durfte ich die Kleinen auch ein bisschen kuscheln.
Sie waren so neugierig und natürlich sowohl nähebedürftig als auch hungrig.
Meine Finger wurden sehr besaugt. Es war durchaus ein Erlebnis.

Erneut hatte ich drei feste Lesungszeiten und ergänzte diese nach Bedarf.
Der Anfang war recht holprig und als meine Vorlesezeit war, hatte sich noch
nicht wirklich jemand eingefunden. Nur ein anderer Schausteller stand bei mir
und wir redeten etwas über die Märchen. Und da noch niemand anderes da war
und meine Lesezeit war, ließ ich ihn ein Märchen aussuchen. Seine Wahl fiel
auf "Die Scherbensammlerin". Ein Märchen, das eher für Erwachsene geeignet ist,
da es sich mit Trauer und Verlust auseinandersetzt und kein gewöhnliches
Happy End bietet. Eher ein bittersüßes Ende. Als ich so las, kam natürlich
so die eine oder andere Person mit dazu. Darunter auch recht junge Kinder,
die natürlich gerade da kamen, als der Ehemann starb. Ich schluckte kurz.
Und dann entschied ich mich, dass der Tod zum Leben gehört und Kinder damit
so viel besser umgehen können, als man ihnen es zutrauen mag. Viel zu oft
werden Kinder nur dann verunsichert, wenn sie mitbekommen, dass die Erwachsenen
komisch umherdrucksen. Also las ich einfach weiter und tatsächlich kamen die
Kinder meinem Eindruck nach extrem gut mit dem Märchen klar.

Direkt danach las ich dann "Die kleine Tänzerin", sodass auch die Kinder
auf ihre Kosten kamen. Eines der Mädchen bei dieser Lesung war bereits beim
letzten Jahr Dauergast in meinem Zelt gewesen. Sie hörte gerne wieder zu und
erkannte das Märchen noch von damals. Das war sehr schön.
Als nächstes las ich "Der Wunderbaum". Die Kinder saßen gerne bei mir
und hörten aufmerksam zu. Und auch die Erwachsenen, die ihre Kids begleiteten,
bekamen so wunderschön träumerische Augen.

Leider begann es dann auch bald zu Regnen. Das Zelt war zwar trocken, aber
ich musste meine Bücherauslage von Außen nach Innen zurückziehen und saß selbst
auch im Inneren des Zeltes, statt draußen zu stehen. Ich bin mir gar nicht
sicher, ob das dem Besucheransturm meines Zeltes jetzt gut getan hat oder
eher nicht. Auf der einen Seite war ich nicht mehr präsent, um bereits draußen
Fragen zu beantworten und es war schwerer ins Gespräch zu kommen. Auf der
anderen Seite brachte nun die Neugierde die Leute dazu, ins Zelt zu schauen
und ich habe schon mehrfach festgestellt, dass eine Person direkt vor einem Ort
viel zu oft abschreckend wirkt. Aber ob es jetzt gut war oder nicht, so hatte
ich doch schöne Begegnungen.

Die nächste Lesung war mit vielen Erwachsenen Frauen. Da sie alle ein bisschen
sehnsuchtsvoll wirkten, fiel meine Wahl auf "Das Spiegelmädchen" und auch hier
hatte ich den Eindruck, dass es gut ankam.
Das nächste Märchen war "Der zauberhafte Silbersee" und das Zelt war zum Bersten
gefüllt mit Kindern und Erwachsenen. Das war ein schönes Gefühl.

Nun war ich mit meinen Lesungsterminen durch. Aber als eine Mutter mit ihrer
Tochter ins Zelt kam, las ich noch "Die schlaflose Prinzessin" und es war
wie für die beiden gemacht. Es war so offensichtlich, die Mutter ihr Kind liebt
und sie schmuste ihre Kleine, so wie es in der Geschichte vorkam.

Nun war es schon spät, dunkel und nicht weniger verregnet. Trotzdem fand
sich noch eine Gruppe in meinem Zelt ein. Nur Erwachsene. Es war wunderbar!
Ich liebe es zweifelsohne, Kindern meine Märchen vorzulesen. Aber wenn ich
Erwachsenen vorlese, die sich auf einer ganz anderen Ebene mit meinen
Geschichten und der dahinterstehenden Symbolik befassen können, ist es einfach
noch mal ein ganz anderes Erlebnis. Nicht besser oder schlechter, anders.
Und wunderschön.
Meine Geschichten sind und bleiben halt Erwachsenenmärchen. Kinder finden auch
Zugang und können es sehr genießen. Aber jedes Mal, wenn jemand bei mir vorbei
kommt und meint "Ah, Märchen. Da werden sich die Kinder freuen", macht mich das
etwas traurig. Das Label "Märchen sind für Kinder" schadet meiner Meinung nach
allen. Um so schöner ist es, Erwachsenen zu begegnen, die sich
ohne zu zögern auf Märchen einlassen können und sich davon tief berühren lassen.
Das sind für mich sehr wertvolle Begegnungen.

Eine meiner intensivsten Begegnungen an diesem Tag war tatsächlich auch mit
einer erwachsenen Frau, die sich einlassen konnte. Als das Fest eigentlich
schon zu Ende war, entwickelte sich ein Gespräch und sie erwähnte den
starken, klaren Blick ihrer Großmutter. Da folgte ich meinem Impuls
und zeigte ihr "Der Mann mit den stahlblauen Augen".
Ich nutze bei meinen Märchen oft eigene Erfahrungen und Erlebnisse und
Momente des Wunderns. Aber dieses Märchen ist als Einziges eines, das recht
biographisch ist. Nicht für mich, sondern von meinem Großvater.
Es ist die Geschichte seines Lebens, die er während seiner Lebzeiten recht oft
erzählt hat. Eine faszinierende Geschichte von Stärke, Liebe und
Unerschütterlichkeit. So wie auch ein paar andere Märchen, die sich
sehr in die mögliche Schwere des Lebens lehnen und nicht standardmäßig
glücklich enden, halte ich dieses Märchen auf Märkten eher unter Verschluss,
bis ich Leuten begegne, bei denen ich den Eindruck habe, sie können damit
umgehen, dass ich dieses Märchen mit ihnen assoziiere. Das nicht nicht immer
gut. Aber wenn es passt, dann ist es ein wunderschöner Moment von Sichtbarkeit
und Verständnis. Als ich mich auf dem Mistelfest traute, war es so ein Moment.
Und ich denke, dass das eine der kostbarsten Begegnungen heute war.

Auf der anderen Seite waren die Begegnungen heute alle sehr schön und auch
sehr unterschiedlich. Die Zuhörer waren immer ganz unterschiedlich aber stets
zugänglich und wertschätzend. Es war wieder ein sehr schöner Tag und ich bin
froh, dass ich dort war - trotz des regnerischen Wetters ;-)

Impressionen:

    

Messe Kassel

Dieses Märchen ist keine wirkliche Auftragsarbeit. Vielmehr eine Hommage an meine Zeit auf der „Herbstausstellung Märchenzauber“ der Messe Kassel, wo ich als Märchenerzählerin gebucht war und eine sehr schöne Zeit hatte. Ich traf faszinierende Leute und beeindruckende Künstler. Und so entstand ein Märchen, in dem (fast) alle Künstler einen Gastauftritt haben: Mia Shinda als die Glückskatze, Die Maus Cassiopeia von „Magalies Mäuseroulette„, „Incanto Erlebniskunst eK“ als der Waldgeist, Holger Schäfer als der Minnesänger, Fabian Regenbogen als der Zauberer, Walerij Bastron als der Maler und Marie Bär als die Geschichtenerzählerin.


Die Geschichte der ersten Katze

Zu einer Zeit, als es noch keine Katzen gab, kam aus einem fernen Land die erste Katze zu uns. Ihr Fell war seidig schwarz und ihr Näschen trug einen großen, weißen Stern, der sich über ihr Kinn und die Wangen ausbreitete. Auch ihre Augen waren von einem weißen Streifen umgeben und funkelten mit einer lustigen Neugierde. Sie hörte auf den Namen Kimarna und sprach in einer Sprache, die wir hierzulande nicht verstanden. Dadurch war es ihr unmöglich, den Wesen, denen sie begegnete, ihre Geschichte zu erzählen.

Und doch ist diese Geschichte erzählenswert. Denn wisset, diese kleine schwarze Katze aus den fernen Landen ist eine Glückskatze. So, wie es seither alle Katzen sind. Sie war aus ihrer Heimat gekommen, um uns wahres Glück hier her zu bringen. Weil die hiesigen Wesen aber keine Katzen kannten, schreckte sie es, wenn sie Kimarna begegneten und sie gingen ihr aus dem Weg. Kimarna jedoch hatte nichts als den Wunsch, die Welt kennen zu lernen und uns ein damals nie gekanntes Glück zu zeigen.

Einsam und von der Welt abgelehnt rastete Kimarna eines Tages traurig unter einer mächtigen Linde. Sie seufzte tief und überlegte, ob sie doch zurückkehren sollte, in die Welt aus der sie kam. Da hörte sie plötzlich ein leises Piepsen neben sich. „Warum weinst du?“, fragte die unbekannte Stimme. Kimarna schaute sich verwundert um, aber sie sah niemanden. „Wer ist da?“, fragte sie. Doch dann fiel ihr wieder ein, dass sie hier niemand verstehen konnte und sie sackte traurig in sich zusammen.

Da tauchte eine kleine Maus vor ihr auf und streckte ihr neugierig das Näschen entgegen. „Ich bin Cassiopeia“, piepste die Maus. „Und wer bist du? Oder sollte ich lieber fragen, was du bist?“ Kimarna schaute erstaunt auf die Maus vor ihr. „Du kannst mich verstehen?“, fragte sie ungläubig und die Maus nickte. „Natürlich kann ich das. Und jetzt wüsste ich gerne meine Fragen beantwortet: Wer und was bist du?“ Kimarna erzählte nun ihre Geschichte. Cassiopeia nickte. „So sei uns hier willkommen, Katze Kimarna aus den fernen Landen.“ Kimarna lächelte dankbar. Dann zögerte sie. „Nun sag mir aber, wie es kommt, dass du mich verstehen kannst? Und warum hast du keine Angst vor mir, wie all die anderen?“ Die Maus winkte ab. „Ich habe in meinem Leben schon gar viel gesehen und weiß, dass nicht alles so ist, wie es zu sein scheint. Denn wisse, ich war nicht immer eine Maus. Ich war dereinst eine mächtige Zauberin. Durch ein Ungeschick habe ich mich selbst in eine Maus verzaubert und komme nun nicht mehr zurück in meine wahre Gestalt. Daher bin ich auf der Suche nach einem mächtigen Magiewesen, das mir helfen kann, meine alte Form zurück zu erlangen.“ Da lächelte Kimarna und sprach: „So will ich dir dabei helfen.“

Cassiopeia, die Maus, schaute verwundert. „Wie willst du mir helfen? Hast du selbst Magie? Oder ist dir ein mächtiges Magiewesen bekannt?“ Kimarna schüttelte den Kopf. „Nichts davon. Aber ich bringe Glück. Wenn du es gut mit mir meinst und mich recht berührst, so werden Geschicke in Gang gesetzt, die dir einen Wunsch erfüllen können.“ Da schmiegte sich Cassiopeia so an Kimarnas Samtpfote, dass diese zu Schnurren begann und sprach einen Wunsch.

Da kam ein Wind auf, der die Blätter des Waldes rascheln ließ. Aus diesem Wind formte sich eine mystische Gestalt, in Moss und grüne Stoffe gehüllt und mit langem, rotbraunem Haar. Diese sanfte, würdevolle Gestalt sprach mit dem Flüstern des Windes: „ich bin der Geist des Waldes. Wer ruft mich?“ Kimarna und Cassiopeia schwiegen überwältigt. Schließlich aber sprach Cassiopeia: „Ich bin die Hexe Cassiopeia und suche ein Zauberwesen, das mir helfen kann, meine wahre Gestalt zurück zu erlangen.“ – „Dieses Zauberwesen bin ich nicht“, antwortete der Wind. „Doch ich kann euch zu dem Zauberer bringen. Springt auf.“ Da beugte sich der Waldgeist hinab und nahm die Katze und die Maus auf ihre Schultern. Dann wuchs sie empor, dass sie fast bis zu den Wipfeln der höchsten Bäume reichte und durchquerte mit großen Schritten das Land. Schließlich kamen sie an den Rand einer Stadt. Da ließ der Waldgeist seine Begleiter hinab und wies auf die Stadt. Als der Waldgeist den Kuss zum Abschied von den Fingern hauchte, löste sich ihre Gestalt wieder auf und ward wieder zu dem mystischen Wind, der die Welt belebt.

Kimarna, die Katze, und Cassiopeia, die Maus, machten sich auf den Weg in die Stadt. Sie huschten durch die schmalen Gassen. Da blieb Kimarna plötzlich bewegungslos stehen. Ihr Näschen zuckte und ihre Ohren suchten woher wohl diese traumhaften Klänge kämen, die sie soeben vernommen hatte. Cassiopeia jedoch hatte nichts gehört und war achtlos weitergelaufen.

Ganz vorsichtig schlich Kimarna den lieblichen Melodien entgegen. Schließlich stand sie in der Stube eines Minnesängers. Er war in sein Harfenspiel vertieft und bemerkte den Besucher nicht. Kimarna aber war gerührt. Noch nie hatte sie derartiges Gehört. Da legte sie sich auf den Saum des Mantels, den der Minnesänger umgelegt hatte, rollte sich zusammen und begann zu schnurren. Der Minnesänger bemerkte es zunächst nicht recht, doch sein Spiel nahm neue Melodien an, die gar gut zu dem Schnurren passten. Dann zögerte er. Die Klänge verstummten. Kimarna hörte auf zu Schnurren. Der Minnesänger schaute sich um und entdeckte die Katze auf seinem Mantel. Kimarna schaute ihrerseits zu ihm hoch. Und so schauten sie sich erstmal eine Weile an. Dann fragte der Minnesänger: „Hast du dieses wundersam schöne Geräusch gemacht?“ Kimarna bejahte dies und es klang dem Mann wie ein Maunzen. Erstaunt zog er die Brauen hoch. Dieses wundersame Wesen schien ihm wie pure Melodie. Vorsichtig bot er ihr seine Hand. Sie schnupperte und roch nichts als Wohlwollen. Da stupste sie seine Hand mit der Nase an und der Hafenspieler nahm Kimarna auf seinen Schoß, um sie zu streicheln, sodass sie wieder zu Schnurren begann.

So saßen sie eine Weile, bis Cassiopeia ihre Nase in die Stube hinein streckte. Kimarna schreckte auf und die beiden begannen ein inniges Gespräch, das für den Minnesänger fast wie ein Streit aussah. Dann blickten sie ihn beide an und versuchten, ihre Geschichten zu erzählen. Doch der Minnesänger konnte sie nicht verstehen. Da seufzte er. Und während er Kimarnas schnurrenden Rücken streichelte, sprach er: „Ich wünschte, ich könnte euch verstehen!“ Da kam ihm eine gute Idee: „Ich weiß“, rief er. „Lasst uns zum Zauberer gehen! Der wird uns sicherlich helfen können!“ Und so machten sie sich auf zum Zauberer der Stadt.

Dieser lebte in einem Zirkuszelt und trug einen hohen, blauen Hut. Der Minnesänger zeigte dem Zauberer die Katze und sprach: „Sieh, welch seltsames Geschöpf mich gefunden hat. Ich wüsste nur zu gern ihre Geschichte. Kannst du nicht einen Zauber sprechen, dass wir sie verstehen?“ Der Zauberer aber schüttelte den Kopf. „Ich bin der Magie zwar mächtig, doch ich kann nur verzaubern, was bereits magisch ist.“ Da sprang Cassiopeia, die Maus hervor und bat den Zauberer um Hilfe. Da schaute der Zauberer ganz erstaunt auf die Maus, zeigte auf sie und sprach: „Dich kann ich verstehen!“

Da erzählte Cassiopeia, was sie wusste und auch, was sie selbst wünschte. Der Zauberer hörte geduldig zu. Schließlich sprach er: „Der Magier, den du suchst, bin ich nicht. Doch ich weiß dir zu helfen. Ich werde dir einen Zauber geben, der es dir ermöglichen wird, mit dem einen Menschen zu sprechen, den du suchst.“ Mit diesen Worten band der Zauberer der Maus Cassiopeia ein Maiskorn um. Wenn dieses Maiskorn seine Form veränderte, würde der nahe Mensch Cassiopeia verstehen.

Dann wandte sich der Zauberer an den Minnesänger: „Wenn dich die Geschichte des Katzenwesens wahrlich interessiert, so musst du gehen, um die Geschichtserzählerin zu finden.“

So machten sich der Minnesänger, Cassiopeia und Kirmarna auf den Weg. Sie zogen von Dorf zu Dorf. Doch sie fanden weder die Geschichtserzählerin, noch jene Person, mit der Cassiopeia sprechen konnte. Wen sie jedoch trafen, war ein Maler. Er lebte in einer Hütte, die tief im Wald lag und malte prachtvolle Bilder von Hirschen und Mythengestalten. Da er der Kunst, den Träumen und dem Ungreifbaren recht nah war, fand er schnell Gefallen an der ungleichen Gruppe und lud sie ein, bei ihm zu Rasten. Des Abends dann saßen sie im trauten Gespräch beisammen. Der Maler war ganz angetan von Kimarna und lockte sie zu sich. Schnurrend strich sie ihm um die Beine. Der Maler war entzückt und streichelte sie bewundernd über den Rücken. „Wie anmutig du bist. Mit Fell wie Samt und Seide zugleich. So etwas Wunderbares wie dich habe ich meinen Lebtag noch nicht gesehen. Ach, wenn es nur mehr Wesen wie dich gäbe. Was wäre das eine Bereicherung für die Welt.“

Da erwachte in den Schatten der Welt das schnurrende Miauen der Katzen. Sie sollten bald den Platz bei den Menschen einnehmen und mit bewundernder Zuneigung verwöhnt werden. Mit ihrem Schnurren, ihrer Eleganz und ihrer bloßen Anwesenheit würden sie die Welt bereichern. Kimarna, Cassiopeia und der Minnesänger jedoch wussten nichts davon.

Als sie am nächsten Morgen aufbrechen wollten, sagte der Minnesänger, dass er noch eine Zeit bei dem Maler bleiben würde, um den künstlerischen Austausch zu genießen. Ihre Künste könnten voneinander wohl profitieren. Beim Abschied bat er Kimarna, die Katze, dass sie ihren Weg fort führen würde, um die Geschichtenerzählerin zu finden. So dass die Welt eines Tages erfahren würde, was Kimarna noch nicht zu sagen vermochte.

So setzten Kimarna und Cassiopeia ihre Reise fort. Bald aber kamen sie an eine Weggabelung. Kimarna und Cassiopeia schauten sich lange an. Schließlich aber entschlossen sie sich schweren Herzens, sich zu trennen.

Cassiopeia reiste gegen Norden. Eines Tages begegnete sie im Wald einer seltsamen Frau. Sie saß auf einer Lichtung und teilte mit einigen Mäusen ihr Brot. Dabei erzählte sie und lachte und ging auf die einzelnen Mäuse ein, die es bei ihr gut zu haben schienen. Cassiopeia fühlte sich von diesem friedlichen Bild angezogen, doch nährte sich nur ganz vorsichtig. Schrittlein für Schrittlein nährte sie sich der Frau mit zitterndem Näschen, als es plötzlich laut ploppte. Cassiopeia erschreckte sich fürchterlich und sowohl die Frau als auch all ihre Mäuse blickten sie an. Das Maiskorn nun weiß erblüht und Cassiopeia hatte durch ihre eigene Magie und die des Zauberers die Fähigkeit erhalten, sowohl mit den Mäusen als auch mit der Mäusefängerin zu reden. Da erzählte sie ihnen ihre Geschichte. Die Mäusefängerin erklärte sich gerne bereit, Cassiopeia bei ihrer Suche nach einem magischen Wesen zu helfen, sodass sie ihre menschliche Gestalt zurückerhalten würde. So wurde Cassiopeia liebevoll aufgenommen und

reiste mit dieser kleinen Familie umher. Die Mäusefängerin erfreute die Leute mit einem fahrenden Mäuseroulette, von dem Cassiopeia nun ein Teil sein würde. So erhielt Cassiopeia ein warmes Nest, spannende Begegnungen und viele Mäusegeschwister. Und nach einer Zeit war sich Cassiopeia gar nicht mehr so sicher, ob sie wirklich wieder ein Mensch werden wollte. Denn in diesem Leben war sie nun glücklich.

Kimarna wanderte derweil nach Süden. Sie vermisste ihre Freundin Cassiopeia, die Maus. Denn ohne sie gab es niemanden mehr, der sie verstehen konnte. Bald aber begegneten ihr auf ihrem Weg Katzen, die von dem Wunsch des Malers ins Leben gerufen worden waren. Und sie sah die Veränderung in den Menschen. Sie sah, dass die Menschen durch das Schnurren der Katzen nunmehr verstanden hatten, welches Glück sie der Welt zeigen wollte. Das freute Kimarna und sie war zufrieden. So gab sie die Suche nach der Geschichtenerzählerin auf. Stattdessen fand sie am Rande der Wüste den Emir Kadir, der sich ihrer annahm. Er kleidete sie in dunkelroten Damast und schmückte sie mit wertvollen Ornamenten aus Gold. Schließlich lehrte er sie das Sprechen in unserer Sprache. Kimarna begann, auf den Hinterpfoten zu gehen. Und bei jedem Schritt füllten ihre Glöckchen und die Goldketten ihre Umgebung mit zärtlichen Klirren. Kimarna genoss den Wohlstand und die Hingabe, mit der Kadir sie überschüttete. Und sie entschied sich, an seiner Seite zu bleiben.

So verbrachten Kimarna und Cassiopeia jeder für sich ein gutes Leben. Sie fragten sich oft, wie es wohl ihrer Freundin ergangen war. Doch sie hatten keine Hoffnung, einander je wieder zu sehen. Das Schicksal aber hatte andere Pläne. All die Wege, die sich dereinst getrennt hatten, führten sich eines Tages auf einem großen Fest zusammen. Kimarna war mit ihrem Kadir die lange Reise angetreten, um das Fest der Geschichten zu begehen. Und Cassandra kam mit ihrer Mäusefängerin. Der Maler, der Zauberer und auch der Minnesänger. Sie alle führten ihre Schritte unabhängig voneinander zu diesem großen Fest. Auch der Waldgeist huschte durch die Hallen. Und endlich sahen Kimarna und Cassiopeia sich wieder. Sie begrüßten sich und erzählten, wie es ihnen ergangen war. Und dann fiel ihr Blick auf ein großes, in rote Tücher gehülltes Zelt, das auf dem Fest stand.

Bedächtig traten sie ein in dieses Zelt. Kimarna Herz tat einen Hüpfer und sie wusste, dass sie nun der Geschichtenerzählerin gegenüberstand. Sie setzten sich zu ihr und Kimarna erzählte ihre Geschichte. Eine Geschichte über Freundschaft und Akzeptanz. Eine Geschichte über Wünsche und Talente. Eine Geschichte über einzigartige Wesen und ihrer Suche nach dem Weg, ihre jeweiligen Einzigartigkeiten einzubringen. Eine Geschichte, die die Geschichtenerzählerin von nun an in ihrem Herzen bewahren würde, um sie in die Welt hinaus zu tragen.

27.09.-05.10.2025: Herbstausstellung „Märchenzauber“

Im Zeitraum vom 27.09. bis zum 05.10.2025 findet in den Messehallen in den Hallen 10 und 11 die Herbstausstellung zum Thema „Märchenzauber“ statt. An den jeweiligen Wochenenden – 27.09, 28.09, 03.10, 04.10, 05.10 – bin auch ich mit meinen Märchen vor Ort.

Samstag 27.09.2025 - der erste Tag


Der erste Tag war ein etwas holpriger Start. Das wunderschöne Zelt, das mir
die Messe Kassel für meine Märchenlesungen gestellt hatte, schien die Menge
nicht so einzuladen, wie es gehofft war. Wenn ich las kamen nur selten
Leute dazu.

Bei meiner ersten Lesung – "Das Juwelenkind" – ging sogar eine der Familien,
die eigentlich hatte zuhören wollen. Die zweite Familie aber hörte sich das
ganze Märchen an und hatte ein ganz beeindruckendes Mädchen. Obgleich sie
noch recht jung war, suchte sie sich mit "Das Mädchen im Schatten" doch ein
Märchen aus, das eigentlich für ältere Kinder gedacht ist.
Aber ich traue ihr zu, das zu lesen und mit dem Inhalt umzugehen.

Später las ich noch "Das Spiegelmädchen", "Goldregen" und "Der Pfad zum Herzen".
Es war ein stetiges Kommen und Gehen, wobei das Gehen irgendwann mehr war.
Ich hatte Sorge, dass es an meinen Märchen liegt, aber vermutlich hing
bei den Besuchern der unterschwellige Zeitdruck „alles sehen zu müssen“
über diesem Tag. Ich kann es verstehen, denn auf der Messe Kassel gibt es
viel Spannendes zu sehen. Aber es ist auch sehr schade, da es sehr viel
Tiefe aus den Begegnungen nimmt.

Wenn ich keine Lesungen hatte, ging ich mit Mia Shinda, die in Vollkostümierung
als Katze vor Ort war, über die Messe, um die Leute in unsere Halle zu loten.
Und um uns auch ein bisschen in der Messe umzuschauen. Die Reaktionen
– vor allem auf Mia – waren großartig. Natürlich wollten viele Fotos
machen. Mia und ich kannten uns bereits vom LARP und waren sehr erfreut,
als wir herausfanden, dass wir beide für die Messe gebucht worden waren.
Mia und ich verstehen uns sehr gut und wir arbeiteten sogleich gut zusammen.
So forderte ich Mia, als der Minnesänger Holger Schäfer bereits am Morgen
mit seiner Harfe die Halle in seine wundervollen Melodien hüllte, zum Tanze.
Das war ein wunderschöner Moment.
Auch unterhielt ich mich mit dem Künstler Walerij Bastron.
Er malte direkt vor Ort beeindruckende Ölbilder. Die Hirsche sehen so
realistisch aus. Mein Lieblingsbild von ihm ist aber der Rabe vor dem Fenster.
Das sprach mich besonders an.

Alles in allem war der erste Tag für mich vermutlich eher ein Ankommen.
Ich habe mein Zelt belebt, ein bisschen Gelesen, habe die ersten Kontakte
zu den Künstlern geknüpft und habe mir die Messe angesehen.
Es ist echt beeindruckend, wie wundervoll stimmungsvoll diese Messe
– vor allem unsere Hallen 10 und 11 – gestaltet wurden. Ich bin nun
sehr neugierig, was die folgenden Tage bringen werden.

 

Sonntag, 28.09.2025 - Der zweite Tag



Der zweite Tag war sehr durchwachsen. Meine Familie und ein paar Freunde
waren auf der Messe. Sie waren bei meiner ersten Lesung dabei. Ich las
"Das zerbrochene Herz" und mein Mann meinte, dass dies eines meiner
besten Märchen bisher sei. Mein Kind jedoch fand den Zauberer Fabian Regenbogen
und die katzige Mia Shinda natürlich weitaus interessanter.
Mein Kind hatte sogar ein Katzenkostüm von zu Hause mitgebracht, um der
Katze als Katze Gesellschaft zu leisten.
Die beiden waren echt großartig zusammen. Mias Art mit Kindern ist wunderbar
mit anzusehen. Es folgte meine zweite Lesung - "Der zauberhafte Silbersee".
Leider brach ich diese ab, weil ich plötzlich keine Zuhörer mehr hatte.
Es wurde noch deutlicher, dass es den Besuchern sehr schwerfällt, sich für
längere Zeit hinzusetzen, wenn es auf der ganzen Messe so viele spannende
Dinge gibt. Auch, wenn ich es verstehen kann, so schmerzte es doch mein
Künstlerherz. Als ich dem Minnesänger Holger Schäfer von meiner Situation
erzählte, bot er mir an, mit seiner Harfe in mein Zelt zu kommen, um meine
Lesung musikalisch zu untermalen und dadurch die Zuhörer anzulocken.
Natürlich stimmte ich sofort zu und erlebte daraufhin mit Holgers großartig
improvisierten Begleitung zu dem Märchen "Die ewigen Momente" eine meiner
besten Lesungen bisher. Es kam niemand dazu und niemand hörte uns.
Aber die Aufwertung meiner Geschichte durch die zarten Harfenklänge war
überwältigend. Und Holger versteht sein Handwerk meisterhaft. Seine
Improvisationskünste ist toll und er ist so einfühlsam, dass er die Geschichte
pointiert untermalte. Ich bin sehr dankbar für die Begegnung mit diesem
wunderbaren Künstler.

Eine weitere kostbare Begegnung hatte ich mit einer Bikerin, die sich mit
"Die Knospe aus Bernstein" ein Märchen empfehlen ließ. Ich erzählte ihr die
Handlung. Das Ende jedoch las ich ihr in meinem Zelt vor. Sie war recht angetan
und fühlte sich wohl gesehen. Ich liebe es, wenn meine Geschichten Leuten
dieses Gefühl geben.

Da heute nicht so viele Besucher da waren – und meine Anwesenheit bei meinem
Zelt die Leute eher zu verschrecken schien – begannen Mia Shinda und ich
ein gemeinsames Projekt: Sie wollte ein paar Videos für Instragramm von sich
in dem Katzenkostüm und fragte mich, ob ich eine Idee habe.
Die hatte ich. Absolut. Vielmehr sprudelte es nur so aus mir heraus.
Ich meine, was bietet sich mehr an, als eine Frau im Katzenkostüm in
Situationen zu bringen, in denen sie Katzenvideos nachstellt? Wir begannen
mit dem Klassiker Gegenstände vom Tisch herunterschmeißen.
Essen vom Tisch klauen, mit Kordeln spielen, das gekonnt überspielte Stolpern.
Mia ließ mir freie Hand dabei, sie in die katzigsten Situationen zu bringen.
Es war großartig! Und ich genoss es absolut. Ich bin sehr neugierig auf die
Videos und Reels, die dadurch entstehen.

Letztlich sorgte der heutige Tag für den Entschluss, dass ich die Zeit
auf der Messe Kassel genießen könnte … auch, wenn die Zuhörer mir das Zelt
nicht einrennen.

 

Freitag, 03.10.2025 - Der dritte Tag



Nachdem ich unter der Woche nicht vor Ort gewesen war, begann der Freitag
mit einem Schock: Während meiner ersten Vorlesungszeit um 11:35 hatten die
Bauchtänzerinnen ihren Auftritt auf der Bühne. Während ihr Tanz durchaus
großartig war, sorgte das natürlich dafür, dass ich in meinem Zelt komplett
unter ging. Ich hatte keine Möglichkeit, "Der Wunderbaum" gegen ihre Musik
anzulesen. Natürlich probierte ich es trotzdem und ich hatte auch einige
Zuhörer. Aber es geht sehr auf die Stimme und brachte mich sehr aus der
Konzentration. Ich war sehr besorgt, dass das nun die Regel sein würde und
ging zu Lars Gnerlich, um ihn von meinen Sorgen zu berichten.
Vielleicht könnte er an zukünftigen Tagen Einfluss auf diese terminliche
Kollision nehmen. Lars Gnerlich war mein Ansprechpartner auf der Messe und
hatte mich damals auch angefragt. Er macht einen großartigen Job, weshalb
sowohl ich als auch die anderen Künstler sich bei ihm sehr gut aufgehoben
fühlen. Trotz seiner vieler anderen Verpflichtungen gab er mir den Raum
und das Verständnis, das ich brauchte, und nahm sich des Terminkonfliktes an.

Dennoch war es wieder der Minnesänger Holger Schäfer, der mein Künstlerherz
zu versöhnen wusste. Obgleich er selbst ein tolles Bühnenprogramm hat,
lud er mich ein, bei seinem nächsten Auftritt mit ihm auf die Bühne kommen
zu können. Er würde mich erneut auf der Harfe begleiten, während ich eines
meiner Märchen vorlas. Meine Wahl fiel erneut auf "Die ewigen Momente".
Es ist wirklich ein ganz besonderes Gefühl. Und Holgers Improvisationen
sind echt beeindruckend und sehr einfühlsam. Vorher aber las ich noch in
meinem Zelt "Die schlaflose Prinzessin".

Später las ich für ein Mädchen namens Mila "Milas Gebet". Es brach mir das Herz,
dass es ihre Freundin zum Weinen brachte, dass es kein Märchen mit ihrem Namen
gab. Außerdem las ich heute noch "Der Katzenprinz" und "Die rote Träne",
wobei letzteres wieder mit der Hafenmusik begleitet auf der Bühne stattfand.

Neben diesen Lesungen hatte ich aber noch wunderschöne Einzelbegegnungen.
So kam eine Frau auf mich zu und fragte, ob ich die Autorin des
Berlepsch-Märchens "Joachim und die Bärentochter" sei. Ich war vollkommen
überrascht, dass jemand über diese Assoziation auf mich zu kommt.
Aber tatsächlich kannte und mochte sie das Märchen. Das ehrte mich sehr.

Eine andere kostbare Begegnung verschaffte mir ein Mann, der sich auf meine
Eingangsfrage einließ: „Was ist das Wichtigste, was ich über sie Wissen
sollte?“ Auf der Messe fragte ich das, um ein Gefühl dafür zu bekommen,
welches Märchen ich einer Person empfehlen könnte. Er antwortete „Dass mein
Kind ein gutes Leben hat“. Da musste ich nicht lange überlegen und gab ihm
"Der elterliche Segen".Ich erzählte ihm die grobe Handlung der Geschichte.
Dann las ich ihm die letzten paar Seiten vor. Es schien ihn zu berühren.
Zumindest wischte er sich etwas aus dem Augenwinkel und erwarb das Buch.
Ich hoffe, es gefällt ihm. Auch hier war es für mich so wertvoll zu sehen,
wie er sich eingelassen hatte.

Neben den Lesungen sah ich heute zum ersten mal das Mäuseroulette von
Myriam Siegler. Es war super.
Und die Mäuse sind so unaussprechlich niedlich! Natürlich war
es extrem naheliegend, die süßen Mäuse mit unserer Katze zu verknüpfen.
Also brachte ich das Videoprojekt mit Mia Shinda etwas weiter voran.
Neben dem Video von Katz und Maus ließ ich Mia noch aus einer großen
Korbtruhe herauskommen. Und weil wir diesen großartigen Zauberer
Fabian Regenbogen hatten, bot sich da natürlich ein gemeinsames Video an.
Generell waren die Schausteller auf der Herbstmesse Kassel, mit denen ich
zu tun hatte, großartig und wir verstanden uns alle extrem gut.
Das umfasst auch die Stelzenkünstlerin von Incanto Erlebniskunst und den
Illustrator Markus Lefrancois mit seiner Chellistin.
Außerdem knüpfte ich angenehme Kontakte zur deutschen Märchenstraße und
dem von Jingjing Zhu-Breitling geführten Märchenladen in BadWildungen.
Und vielleicht entwickeln sich aus diesen neuen Kontakten zukünftig
fruchtbare Kooperationen.

 

Samstag, 04.10.2025 - Der vierte Tag



Der Samstag war sehr gut besucht. Ich hatte viele Lesungen und begegneten
vielen Leuten. Bereits bei der ersten Lesung kam eine Frau, die Märchen
sehr zugetan ist, zu meinem Zelt und wir unterhielten uns etwas.
Sie und ihre Begleiterin blieben bis zur ersten Lesung. Ich erzählte
"Das zerbrochene Herz". Dieses Mal sprach ich eher frei, als dass ich es vorlas.
Natürlich sorgte das für einen ganz anderen Kontakt mit den Zuhörern.
Und es waren viele Kinder da, die es sich gemütlich gemacht hatten. Später
erzählte ich in ähnlicher Weise "Das ewige Gemälde". Auch holte mich
Holger Schäfer wieder zu sich auf die Bühne. Dieses Mal las ich
"Vom Geheimnis der Zeit". Obwohl ich es schon massiv gekürzt hatte, wurden
wir doch abgeklopft, bevor ich die Geschichte fertiggelesen hatte.
Das war schade. Und leider folgte mir auch trotz meiner Einladung niemand
in mein Zelt, um die Geschichte zu Ende zu hören. Stattdessen entwickelte
sich an meinem Zelt, wo meine Bücher standen, ein Gespräch. Eine Frau ließ
sich von mir "Das Juwelenkind" empfehlen. Und ein Mann überlegte,
ein Märchen für seine Tochter zu holen. Ich empfahl ihm "Der Wunderbaum".
Seine Frau kam dazu und ich fasste die Geschichte zusammen. Die Frau
hatte Gänsehaut und mit jedem Satz bestätigten sie sich gegenseitig, wie gut
das Märchen – das über die Fähigkeit des bewussten Wünschens ist – zu ihrer
Tochter passen würde. Dann aber schlug die Mutter das Buch aus und las
einen Satz: „Sie erwachte neben einem Mann, den sie nicht liebte.“ …
Im Kontext der Geschichte macht dieser Satz absolut Sinn und ist recht harmlos:
Die Protagonistin lässt sich von der Wunderfrucht der Liebe in ein
alternatives Leben bringen, in dem sie geliebt wird, bemerkt aber bald,
dass es sich nicht echt anfühlt und sie reist weiter. Tatsächlich geht der
Mann auch super mit der Protagonistin um und respektiert ihre Grenzen,
statt sich aufzudrängen. Ich bin selber Mutter und verstehe, dass man
bei diesem Satz zucken kann. Aber ich fand es doch sehr schade, dass dieser
eine, aus dem Kontext gerissene Satz sie von einem Märchen weggestoßen hat,
das bis zu diesem Moment doch so gut zu passen schien. Ich finde,
damit haben sie sich einer potentiell bereichernden Erfahrung beraubt.
Aber ich kann es durchaus verstehen.

Später kam dann ein Pärchen zu mir. Eigentlich nur, weil er von der
Wanderung über die Messe erschöpft war und mein Zelt sich sehr zum Ausruhen
anbot. Aber dann bot ich ihnen an, ein Märchen vorzulesen. Mittlerweile
hatten sich über den Tag hinweg immer mal wieder Leute in meinem Zelt
eingefunden, die sich und ein bisschen geschmökert. Das hatte mich sehr
gefreut und daher hatte ich die Bücher im Zelt verteilt, um das zu
unterstützen. Nun nahm ich mit "Die unscheinbare Fee" das naheliegendste
Buch und las es dem Pärchen vor. Sie schmusten sich aneinander und schienen
es zu genießen, mal selbst vorgelesen zu bekommen. Ich denke, das ist auch
ein großer Aspekt, den Erwachsene an den Lesungen mögen.

Auch heute machte ich natürlich wieder mehr als Lesungen. Gestern hatten
mich Mia Shinda und Lilli gefragt, ob ich Ideen für gemeinsame Videos hätte.
Und natürlich hatte ich diese. Auch hier waren beide Künstler sehr offen
für meine Anregungen und waren gleich mit an Bord.

 

Sonntag, 05.10.2025  - Der fünfte Tag



Am letzten Tag war ich etwas angeschlagen und nicht ganz so aktiv, wie ich
es sonst gewesen war. Dennoch las ich "Der ewige Turm" (den ich leider
abbrechen musste, um Fotos zu machen) und "Die verwunschene Blume".
Letztere war gut besucht. Viel mehr geschah heute im Kontakt mit den Besuchern
leider nicht. Wobei das aber auch mir zu Lasten gelegt werden kann,
denn ich muss ehrlich sagen, dass ich ein klitzekleines bisschen abgelenkt war:

Wenn ich sonst mit Mia Shinda auf der Messe umhergelaufen war, gab es da
immer wieder Leute, die sie als den "gestiefelten Kater" interpretierten.
(Es gab auch Hunde, die ihr Kostüm verstanden hatten und dieser übergroßen
Katze hinterherbellten, aber das ist eine andere Geschichte.)
Jedenfalls entwickelte sich zwischen Mia und mir der Witz, dass wir eigentlich
eine andere Geschichte entwickeln müssten, auf die wir die Leute verweisen
könnten ...

Natürlich schüttelte ich direkt ein Grundkonzept aus dem Ärmel: Sie sei
eine Glückskatze aus fremden Landen. Leider sei sie so ungewöhnlich,
dass Leute ihr zunächst skeptisch begegneten, statt sich das Glück zu sichern.
Außerdem hatte sich entwickelt, dass ich die Kinder ein Sprüchlein aufsagen
ließ: "Kätzchen, Kätzchen, reich mir dein Kätzchen".
Wenn sie das sagten, hielt Mia ihre Katzentatze hin und die Kinder konnten
sie streicheln. Das half sehr, um die Berührungsängste einiger Kinder
mit Neugierde zu überschreiben und Kontakt aufzunehmen.

Als Magalie von "Magalies Mauseroulette" mich dann fragte, ob ich auch ein
Märchen über eine Maus habe (habe ich nicht), entstand ein Selbstläufer.
Es entstand noch vor Ort das Märchen: "Die Geschichte der ersten Katze".
Das Motiv der Glückskatze blieb. Aber es war eine Reise, die all die Künstler
involvierte, die ich auf der Messe kennen gelernt hatte: Die Maus Cassiopeia
mit ihrer Mäusefängerin, den Waldgeist, den Minnesänger, der Zauberer,
der Maler und schließlich die Geschichtenerzählerin.

Eigentlich hatte ich gedacht, dass alle meine Märchen bereits geschrieben sind.
Aber diese Hommage an die Erlebnisse auf der Messe Kassel schienen einfach
notwendig zu sein. Und so bedanke ich mich für diese wunderbare Zeit und hoffe,
dass mich die dort geknüpften Kontakte noch eine ganze Weile begegnen werden.

 

Impressionen:

Mia Shinder

Myriams Mausroulette

Holga Schäfer – Harfe und Sang

Fabian Regenbogen

Incanto Erlebniskunst

                                          

Sommer 2023: Landesgartenschau Höxter

Ich hatte 2023 die Möglichkeit, Teil des Programmes der 19. Landesgartenschau von Nordrein-Westfahlen in Höxter an der Weser zu sein. In der Zeit vom 20.04-15.10.2023 finden in einem wunderschön hergerichteten Höxter diverse Veranstaltungen statt. Ich werde mit meinen Märchen und diversen Lesungen ein Teil davon sein, oder in Gewandung über das Gelände streifen. Wenn ich keine geplanten Lesungen gebe, ist es natürlich trotzdem möglich, mich in Gespräche zu verwickeln oder eine kleine Privatlesung zu erhalten. Die Termine, an denen ich voraussichtlich anwesend sein und Lesungen halten werde, sind:

20.04.2023 – Eröffnungstag

25.04.2023 – Der Tag des Baumes: Der Wunderbaum / Goldregen

29.04.2023 – Der Tag des Tanzes: Die kleine Tänzerin / Das Spiegelmädchen

06.05.2023 – Das Genuss-Wochenende: Die Wunder der Alltäglichkeit

24.06.2023 – Rosenduft und Märchen: Die Wunder der Alltäglichkeit / Die schwarze Rose

01.07.2023 – Tag der Gesundheit: Die Wunder der Alltäglichkeit / Das verborgene Licht

02.07.2023 – Tag der Literatur

16.07.2023 – Märchentag

25.09.2023 – Weltherztag: Das zerbrochene Herz / Milas Gebet

15.10.2023 – Abschluss


Am 20.04 war die Eröffnung. Ich meanderte über das Gelände, schaute mir
schöne Orte an, an denen ich mich später aufhalten könnte und knüpfte erste
Kontakte. Später am Tag traf ich unerwartet auf Oliver Köhler vom WDR.
Es entwickelte sich ein Gespräch, an dessen Ende ich für "Hier und Heute"
interviewt wurde. Ich bin von Minute 13:30-14:47 zu sehen.
Es war ein sehr spannendes Erlebnis!

Für den 25.04 waren meine ersten Lesungen geplant. Die erste war leider
nicht so gut besucht, wie ich es mir gewünscht hätte. Es war unter der
Woche und eher kalt. Außerdem war die erste Lesung recht früh. Daher waren
bei der ersten Lesung keine Zuhörer. Wir nutzten diese Zeit also dafür, in
dem wunderschönen Ambiente der Mustergärten ein paar Fotos zu machen und
die Gegend noch besser zu erkunden. Bei der zweiten Lesung traf ich dann
auf ein sehr interessiertes Paar, das sich die Lesung gerne anhörte.
Ich las "Der Wunderbaum" und mir ging das Autorenherz dabei auf, wie sehr
die beiden sich darauf einließen. Sie waren so begeistert, dass sie sich
sogar die Folgetermine merken und ihren Freunden davon erzählen wollten.
Ich würde mich sehr freuen, die beiden noch einmal zu meinen Zuhörern
zählen zu können. Weiterhin spendete ich heute ein paar meiner Bücher
für den Bücherschrank im Lesegarten.

Ich hatte am 28.04 ein Mikrofon mit, um meine Stimme zu verstärken, und war
auf der Galeriebühne. Dieses Mal war die erste Lesung ("Die kleine Tänzerin")
besser, bei der sich ein einzelner Zuhörer zur Mitte des Märchens hin direkt
vor die Bühne stellte und mit geschlossenen Augen in dem Märchen eintauchte.
Das war sehr schön. Es ist immer wieder rührend zu sehen, wenn meine Märchen
Menschen erreichen. Auf die zweite Lesung ("Das Spiegelmädchen") schien aber
leider keiner groß zu reagieren. Aber ich sammle von Lesung zu Lesung immer
ein bisschen mehr Erfahrung und werde hoffentlich irgendwann im Verlauf
der Landesgartenschau noch wirklich erfüllende Momente haben. Dieses Mal
begann ich, die Lesungen mit Video aufzunehmen. So hatte ich zumindest eine
gewisse Motivation, überhaupt anzufangen, statt auf Zuhörer zu warten.

Der 07.05. begann damit, dass sich ein Hirschkäfer in meinem Bein gekniffen hatte. Das hat zwar nichts mit meinen Lesungen zu tun, war für mich aber trotzdem eine sehr faszinierende Begegnung. Bei der Lesung von "Die Wunder der Alltäglichkeit" stand eine kleine Familie vor mir und hörte zu. Nach der Lesung lobten sie meine sehr beruhigende Stimme, in der ich vorgetragen hatte. An jenem Tag war für den Nachmittag keine Lesung mehr angesetzt und ich nutzte die Zeit, um auf dem Gelände zu meandern und zu schauen, ob sich Begegnungen, Gespräche oder Spontanlesungen ergeben. Außerdem nutzte ich die Zeit, in der ein paar wunderschönen Anlage ein paar Fotos von meiner Gewandung zu machen. Nachmittags waren wir von den Galeriegärten zum beim Schöpfungsgarten angelangt und dort entwickelte sich ein Gespräch, das zu einer kleinen Privatlesung von "Die rote Träne" für fünf Leute führte. Es war eine schöne Stimmung und machte mir Vergnügen.



Irgendwie stand der 24.06 unter dem Motto der Drei. Ich gab drei Lesungen und
bei allen drei Lesungen begleiteten mich drei Zuhörer auf die Reise. Bei der
ersten Lesung entschied ich mich spontan, dass ich "Milas Gebet" lesen wolle,
statt "Die Wunder der Alltäglichkeit". Ein Elternpaar mit ihrer Tochter
setzten sich zu mir und lauschten. Als zweites Märchen las ich wie geplant
"Die schwarze Rose". Da es mein erstes Mal mit diesem Märchen war, war ich
durchaus überrascht, wie gut sich das Märchen zum Vorlesen eignet. Es machte
Vergnügen, in die Rollen zu schlüpfen und viel Schauspiel mit in die Lesung
mit einfließen zu lassen. Die Zuhörer waren dieses Mal ein Ehepaar und ein
Mann. Es war total schön, wenn ich in die Gesichter sah, und erkennen konnte,
dass sie eine gute Zeit hatten. Nahezu direkt nach der Lesung kam ein kleiner
Junge zu mir und fragte, ob hier die Lesung sei. Er zeigte sich betrübt, dass
es schon vorüber sei und ich bot ihm an, dass er mir noch ein paar weitere
Zuhörer holt und ich dann einfach ein Märchen seiner Wahl lese. Dafür bin ich
ja da. Er holte mir seine Schwester und seine - wie ich annehme - Großmutter.
Die Kinder wählten "Die rote Träne". Ich bin mir nicht sicher, ob sie dem
Märchen so viel abgewinnen konnten, aber auch sie schienen Spaß zu haben.
Die verbliebenden Termine konnte ich leider aus privaten Gründen nicht
wahrnehmen. Ich hätte mich sehr gefreut, "Das verborgene Licht" zum ersten Mal
vor Publikum zu lesen, freie Lesungen anzubieten und zu Meandern. Ich wäre
neugierig auf die Begegnungen und neuen Geschichten gewesen.
Aber leider kann man nichts machen, wenn das Leben zuschlägt. Und es war im
Nachhinein betrachtet eine sinnvolle Entscheidung.

Dennoch muss ich schweren Herzens zugeben, dass die Landesgartenschau Höxter
- wie schön und vielseitig sie auch war - nicht wirklich das richtige Ambiente
für meine Märchenlesungen war. Formell bin ich nach wie vor von der Themennähe
überzeugt. Aber es gelang mit vor Ort leider nicht, die Mischung aus Stimmung,
Ruhe, Erreichbarkeit und Bequemlichkeit, die ich für meine Märchenlesungen
gebraucht hätte, zu erzeugen. Vielleicht lässt sich das ein bisschen darauf
zurückführen, dass die Besucher mehr zum zwanglosen Flanieren gekommen waren
und es entsprechend etwas schwerer war, für eine halbe Stunde an einem Ort
zuzuhören, wenn das nicht vorher eingeplant war. Nicht zuletzt, weil der von
mit gewählte Standort vermutlich nicht genug für ein längeres Ausharren einlud.
Ich hatte mich bei der Wahl des Standortes für Ambiente und Ruhe entschieden.
Das ging aber nachhaltig auf Kosten von Erreichbarkeit und Bequemlichkeit. Ich
war am Ende des Geländes und sehr abgeschieden von dem verdichteten Getrubel
der Hauptattraktionen, wodurch ich nur sehr wenig "Laufkundschaft" hatte.
Das war gleichzeitig gut und schlecht: Die Lesungen waren sehr entspannt und
ungestört von äußerer Unruhe und Bewegung, aber dadurch kamen nicht viele
Leute zufällig vorbei, die sich spontan zum Zuhören entschließen konnten.
Dazu kam, dass es zu den Zeiten der Lesungen an meinem Standort oft zu hell
und zu warm war, was es potentiellen Zuhörern - kombiniert mit dem Fehlen von
(bequemen) Sitzgelegenheiten - sehr erschwerte, sich in Ruhe auf die gelesenen
Geschichten einzulassen. Das war sehr schade. Dennoch würde ich auch jetzt im
Nachhinein die Lokation der Galerie-Bühne den anderen (Lesegarten, Weserufer
und Schöpfungsgarten) vorziehen. Ich habe mich dort sehr wohl gefühlt und die
Atmosphäre war einfach extrem schön. Was ich allerdings gerne noch ausprobiert
hätte wäre, in einen der nahen Mustergärten zu gehen, wo es Schatten, einige
Stühle und Sitzsteine gab. Aber dazu kam es leider nicht mehr, da ich aus
privaten Gründen nicht an den restlichen Terminen teil nehmen konnte.

Was mir sehr leid tut ist, dass es mir schwer gefallen ist, bei dem Event
wirklich anzukommen. Ja, ich habe die Lesungen genossen, die Begegnungen haben
mich berührt, das Gelände war wirklich außergesprochen schön und ich habe die
eine oder andere neue Erfahrung gemacht. Aber trotzdem erzählt mein kleines
Künstlerherz von einem tiefen Bedauern darüber, dass es nicht "mehr" war.
Dass die Begegnungen hätten tiefer sein können. Dass die Lesungen hätten noch
besser sein können. Dass das Gefühl von Wertschätzung und Anerkennung hätte
präsenter sein können. Teilweise hatte dies vermutlich auch viel mit meinen
Entscheidungen zu tun. Aber ich fürchte, ein Stückweit habe ich dann mit
meinen Geschichten doch nicht so gut in das Setting gepasst, wie ich es mir
wohl vorgestellt und gewünscht hätte. Und während viel davon bereits
voraussehbar gewesen ist, bin ich doch froh, dass ich es ausprobiert habe.
Ich hoffe, dass mir die Erfahrungen, die ich auf diesem Event gesammelt habe
mich begleiten und in Zukunft hilfreich zur Seite stehen.

Impressionen:

11.06.2022: private Lesung

Ich bin am 11.06.2022 zu einem Geburtstag eingeladen, bei dem die Veranstalterin sich explizit gewünscht hat, dass ich eines meiner Märchen vorlesen soll. Es ist noch nicht ganz klar, ob ich „Milas Gebet„, „Der Pfad zum Herzen“ oder „Die kleine Tänzerin“ vorlesen soll. Alle diese Märchen haben etwas für sich, die Frage ist nur, welches davon wohl für das Setting am angemessensten sein wird.

Der Geburtstag selbst war erst am 12.07, aber es war geplant, im größeren
Rahmen rein zu feiern. Dadurch fanden die Meisten Veranstaltungspunkte
- wie auch meine Lesung - am 11.06. statt. Die Wahl der Veranstalterin war
letztlich auf "Die kleine Tänzerin" gefallen. Es blieb lange unklar, wann
ich meinen Auftritt haben würde, aber gegen Elf Uhr kam dann die konkrete
Aufforderung und ich bereitete mich vor.

Ich saß in Gewandung mittig auf der Tanzfläche auf einem Stuhl und hatte
ein Mikrophon vor mir. So las ich das Märchen vor. Es war schwer, in den
Gesichtern der Zuhörer zu lesen, da es das erste Mal war, dass sich das
Publikum nicht wirklich freiwillig dazu entschieden hatte, mir und meiner
Geschichte zuzuhören. Aber es schien, als seien alle in der Lage, sich mehr
oder weniger darauf einzulassen. Einige schlossen die Augen. Andere schauten
mich an. Hin und wieder lehnten sich Pärchen aneinander an oder fassten sich
an den Händen. Manche schenkten der Geschichte ein Lächeln. Am schönsten aber
fand ich persönlich den Blick, den ein junger Vater seinen beiden Söhnen
(neun und zehn Jahre alt) zuwarf. Die Jungs wirkten ganz aufmerksam und
hörten scheinbar zu. Und der Vater beobachtete sie und sein Blick lief über
vor Zuneigung. Das war schön anzusehen.

Die Lesung selbst war durchwachsen. Ich hatte immer mal wieder ein paar
Momente, in denen ich etwas unkonzentriert war und mich verhaspelte. Aber
größtenteils bin ich ganz zufrieden. Und ich hatte unglaublich viel Spaß
daran, dieses Märchen vorzulesen. Durch den kindlichen Kontext und die
vielen unterschiedlichen Figuren, die im häufigen verbalen Austausch sind,
ist dieses Märchen sehr lebendig und facettenreich vortragbar.

Impressionen:

Meine Gewandung

Der Willmuss

Tief in uns Menschen, auf den geheimen Landschaften unserer Herzen, leben die Impulse. Diese Impulse prägen unsere Denkmuster und Motivationen. Und formen dadurch unser Leben.

Einer dieser Impulse ist der Brauche. Er schlüpfte aus dem ersten Schrei des Säuglings, geboren aus dem drängenden Wunsch zu leben. Mit tränenfeuchten, großen Knopfaugen blickt er aus seinem pummligen Körper hinaus in die Welt. Seine Pauspacken und sein bunten, lockiges Fell lassen ihn gar niedlich und bedürftig erscheinen, sodass man ihm gerne etwas Gutes tut. Öffnet er jedoch seinen kleinen Schmollmund, so entschlüpft ihm ein Brüllen. Ein Brüllen, dass drängend und ungeduldig ist und direkt. Und nährt sich ihm das Begehrte, dann greift sein dreigliedriger Schweif danach und lässt es nimmer mehr gehen.

Der Wollen erwuchs aus der ersten Begierde. Die stechenden Augen über seiner schmalen Schnauze brennen vor Verlangen und die scharfen Krallen seines schlanken, sechsfüßigen Leibes sind bereit für den Kampf. Sein spitzer Schrei geht durch Mark und Bein. Er klingt fordernd und ist gespeist von der unbändigen Sorge, zu kurz zu kommen. Dieser Schrei erinnert an einen Angriff. Dieser Impuls ist stets bereit, seine hohen Ziele zu erreichen.

Auch gibt es den Sollte. Sein träger, dicker Körper behindert jede Bewegung und seine müden Augen blicken traurig in die Welt. Sein Rufen klingt stets wie ein erstickter Seufzer und wann immer er ihn tut, scheinen die harten Hornplatten auf seinem Rücken schwerer zu werden. Geboren ward er durch die äußeren Moralien, die seine vier hängenden Ohren gar gut entfangen und halten.

Die langen, sensiblen Schnurrhaare des Kann sind gar trefflich, um seine Nische zu finden. Und die kräftigen Beine seines muskulösen Körpers tragen ihn überall hin. Geboren ward dieser Impuls aus dem ersten Trotz. Er ist in jeder seiner Bewegungen stolz und kontrolliert. Er ist der Bruder des Wollen und gemeinsam können sie die Feuer des Trotzes entzünden und die Welt neu erschaffen. Doch zu welchem Preis?

Der Wunsch ist ein sanfter, gar unscheinbarer Impuls. Seine Augen sind zumeist geschlossen und seine Schnurrhaare vibrieren zu einer unhörbaren Melodie. Er ist geboren aus der reinen Demut und ist stets zurückhaltend, brav und vertrauensvoll. Er kuschelt sich gerne hinein in sein weiches, flauschiges Fell aus weiß-silbriger Wolle. Seine kurzen Beine tragen ihn nicht. Und will er sich bewegen, so öffnet er seine tiefen, traurigen Augen. Aus ihnen spricht eine so tiefe und rührende Sehnsucht, dass er getragen wird wo immer er hin will.

Der Muss entstand aus den ersten Regeln und Pflichten des Menschen. Regeln, die vom Außen herangereicht wurden an des Herzens Landschaft. Seine langen, schwarzen Haare fließen wie Teer über den Boden und machen jede Bewegung schwer. Seine schlaffen Ohren hängen schlapp hinunter und hören doch jedes auferlegte Wort. Dieser Impuls ist gar kräftig und trotz seines schweren Fells vermag er sich unerbittlich voran zu quälen. Was bleibt ihm auch? Denn seine vom filzigen Fell verborgenen Beine haben keine Knie und so kann er sich keine Pause gönnen. Zugleich ist dieser Impuls stets am Plappern und am Murmeln und ist nicht einen Augenblick lang still. Es ist ermüdend ihm zu lauschen. Denn er ist der Lauteste von allen und sein gemurmelter Schrei ist treibend und drängend.

Der Darf ist ein gar misstrauischer und scheuer Impuls. Seine großen, runden Ohren und die scharfen Knopfaugen eigenen gar trefflich, um Dinge von Außen wahr zu nehmen. Seine zierlichen Pfötchen sind hervorragend dafür, sich vorsichtig voran zu tasten. Und jegliche Bewegung, die er tut, tut er ausnahmslos mit der Erlaubnis anderer.

Das sind unsere Impulse. Geboren aus Mangel und Angst. Sie haben ihre Stärken, die uns durch das Leben tragen. Und sie haben ihre Schwächen, die uns bedrücken und binden. Der letzte Impuls, von dem ich erzählen werde, ist der Willmuss.

Der Willmuss ist ein gar possierliches Tierchen. Sein warmes Fell ist so weich wie Wattewolken und trägt auf dem Rücken ein lächelndes Gesicht als Muster. Das Fell ist dicht genug, um den Willmuss zu schützen und weich genug, dass man ihm etwas Gutes tun möchte. Sein rundlicher Kopf beherbergt neugierige Knopfaugen, eine Stupsnase und einen Mund, der ein ansteckendes Lächeln zu tragen scheint. Sein schnurrendes Maunzen ist nicht fordernd noch drängend, aber fest entschlossen in sich. Seine runden Ohren hören nur Gutes und wandeln jedes böses Wort in verdecktes Wohlwollen. Sein kuschliger Körper verbirgt eine immense Kraft und seine tappsigen Pranken verfügen über eine erstaunliche Anmut. Geboren ward dieser Impuls aus der Reinheit des Seins. Aus dem Gefühl von Richtigkeit und Entwicklung. Und alles an diesem Impuls spricht von einem untrüglichen Vertrauen in das Gute in der Welt.

Der Willmuss ist nicht laut doch unüberhörbar. Und wenn er spricht, werden die anderen Impulse still. Folgst du dem Willmuss und hörst ihm gut zu, so wird er dich tragen, wohin du gehörst. Denn er ist reiner als der Will und selbstbestimmter als der Muss. Er setzt Ziele ohne Mangel, Angst und Wut. Und er gibt dir, was immer du brauchst, um glücklich zu sein. Wann immer du also den Willmuss hörst, lausche ihm wohl. Und lass dich führen, wo dein Glück dich trifft.

Jenseits des Lichts

Grelles Licht strahlt mir entgegen. Ich verliere all meine Orientierung, weiß nicht wer noch wo ich bin. Mehr taumelnd als Gehend versuche ich, meine Orientierung und mein Gleichgewicht wieder zu erlangen. Aber es ist so schwer. Obgleich es nur Licht ist, dass in meinen Augen beißt, komme ich mir gelähmt vor und träge. Endlich verglüht das Licht. Es wird schwächer und schwächer. Viel zu langsam. Aber endlich schält sich ein Zimmer aus dem Weiß. Eine Küche mit Esszeile. Wo bin ich? Und warum bin ich hier? Und warum kommt mir diese Küche so seltsam vertraut vor? Ich fahre mit meiner Hand über die Holzbeschichtung der Theke. Viel zu glatt. Und ein bisschen kühl. Nicht sehr. Aber vielleicht zwei, drei Grad kälter als meine Körpertemperatur. Versonnen lasse ich meinen Blick über die Anrichte streichen. Wo bin ich?

„Äh-ähm!“ mein Körper zuckt zusammen unter dem Räusperte hinter mir. Ich Wirbel herum und starre in das Gesicht zweier mir unbekannten Frauen. „Ha … hallo …?“, stottere ich indem die fremden und skeptisch wirkenden Gesichter vor mir. Die eine Frau hat eine dunkle Haut und trägt ihre schwarzen Locken offen, sodass sie buschig von ihrem Kopf abstehen. Ihr gesamter, schlanker und doch muskulöser Körper streckt sich über ihre gesamte Höhe hinaus. Der Oberkörper mir zugewandt und die Hände vor der Brust verschränkt. Ihr schlanker Hals scheint noch mehr gestreckt zu sein als üblich, damit sie auf mich hinab schauen kann. Dabei ist sie kleiner als ich. Nicht viel, sie ist recht groß für eine Frau. Und doch fühle ich mich unter ihrem abweisenden Blick wie ein Eindringling. Aber ein Eindringling worein? Ich weiß doch nicht einmal, wo ich bin! Ihre Arme sind vor ihrer Brust verschränkt. Plötzlich bewegt sich etwas neben ihr. Die andere Frau winkt mir zu. Aber nicht begrüßend oder freundlich. „Tschüss“, sagte sie. Ihre Augen sind eiskalt. Dabei wären sie doch eigentlich sehr hübsch. Haselnussbraun. Mir hellen Sprenkeln. Ich ertappe mich bei dem Wunsch, näher an sie heran zu gehen, um die Farbe dieser Sprenkel heraus zu finden. Aber mein Körper bewegt sich nicht. Weder zu ihr hin noch von ihr weg. Sie ist kleiner als die Andere. Heller, von der Haut. Braungebrannt, aber dennoch hell. Zierlich. Und doch auch wieder nicht. Irgendwas an ihr zieht mich an. Und doch stößt mich alles ab. Ihre Hände sind abweisend auf ihre gewundenen Hüften gestützt, ihre Seite ist mir mehr zugewandt als ihre Front. Sie streicht ihre karamellbraunen Haare zurück, hinter ihr Ohr. Ein kleiner Ohrring blitzt auf. „Entschuldigung, bitte was?“, stammel ich. „Tschüss“, wiederholt die Frau erneut. Ebenso abweisend wie zuvor. „Du kannst doch nicht einfach an uns vorbei in unsere Küche spazieren und unsere Teke antatschen. Was glaubst du, wer du bist? Marlon Brandon?“, sagte die Dunkelhäutige. Ich schaue mich vollkommen verloren um. Die Frauen haben absolut recht. Wenn da ihre Wohnung ist, kann ich da nicht einfach rein spazieren. Aber wo zur Hölle bin ich und warum bin ich hier?!

„Hörst du schlecht?“, setzt die Kleinere nach. „Wir wollen, dass du Gehst!“ Ich zucke unter dem scharfen Ton zusammen. „Ja … ja, natürlich, Entschuldigung“, murmle ich. Dann mache ich mich auf den Weg zur Haustüre. Seltsam. Warum weiß ich so genau, wo es lang geht? Ich gehe durch den Flur. Mir fällt auf, wie seltsam steril er ist für den Hausflur zweier Frauen. Nur nackte, weiße Wände. Ein weißer Schuhschrank. Ein Spiegel mit weißen Rahmen. Als ich an ihm vorbei gehe, erhasche ich einen Glims meiner eigenen Gestalt. Seltsam. Sehe ich wirklich so aus? Meine dunklen Haare sind recht kurz geschnitten und liegen mit einem Seitenscheitel ordentlich auf meinem Kopf. Nur hier und da stehen einige Strähnen wiederwillig heraus. Ein Dreitagebart sprießt auf meinen Wangen. Um den Mund herum wird er etwas dichter und länger. Mein dunkelblaues Shirt ist mir entweder etwas zu klein oder extra so geschnitten, dass es über meiner muskulösen Brust spannt. Mir gefällt das nicht. Aber warum? Habe ich diese Kleidung nicht selbst gewählt? Ich schüttle den Kopf und gehe weiter. Weiter in das Weiß. Wieder dieses schreckliche, in den Augen brennende, Weiß. Aber sonst nichts. Keine Bilder, keine Zierde. Für Frauen sehr ungewöhnlich. Ich erröte ein bisschen bei diesem Gedanken und weise mich für dieses Vorurteil zurecht. Aber andererseits hatte ich auch nie wirklich großen Kontakt mit Frauenwohnungen. Glaube ich. Ich erinnere mich nicht.

Endlich komme ich zur Türe. Ich strecke meine Hand dem Türgriff entgegen um sie zu öffnen. Aber sie ist verschlossen. Ich bin so überrascht, dass ich voll gegen die Türe laufe. „Aua!“, protestiere ich, mehr aus Verwunderung als aus Schmerz. Die beiden Frauen stecken ihre Köpfe aus der Küche. „Ist er gerade wirklich gegen die Tür gerannt?!“, flüstert die eine. „Der ist doch total gestört! Oder voll auf Drogen! Ich hab doch gesagt, wir sollten lieber die Polizei rufen!“ Ich spüre die Wut in mir aufflammen. „Ich bin weder gestört noch auf Drogen oder sonst wie eingeschränkt“, knurre ich. Dann drehe ich mich genervt um und zeige auf die Haustüre. „Und wenn die Damen die Freundlichkeit hätten, ihre Türe wieder aufzuschließen, könnte ich dann auch endlich gehen!“ Das ist mir allmählich echt zu dumm! Die Frauen tauschen einen langen, unsicheren Blick aus. Ich verdrehe stöhnend die Augen. „Ernsthaft?! Ihr wollt mich doch los werden, also macht endlich die verdammte Türe auf!“ Nach einem weiteren unsicheren Blick zueinander, setzt sich die Kleine der Frauen in Bewegung. Die mit den karamellfarbenden Haaren. Ich mag es, wie sie sich bewegt. So in einem völlig eigenen Rhythmus. Sie wird langsamer, als sie mich erreicht. Und als sie sich nahe der Wand an mir vorbei schiebt, lässt sie mich nicht aus den Augen. Prüfend und taxierend ist ihr Blick. Wie ein scheues Reh. Sie greift nach dem Türgriff, ihre haselnussbrauen Augen weiter an mich geheftet. Mit einem trotzigen Blick drückt sie die Türklinke hinunter. Ihre Augen flackern. „Was zum …“, flüstert sie und wendet sich nun vollends der Türe zu. Mit kräftige, Nachdruck wackelt und zerrt sie an der verschlossenen Türe. Dann ruft sie nach der anderen. „Elli? Komm mal. Die Tür geht echt nicht auf!“ Lässig lehne ich mich an die Wand und betrachte das Treiben beider Frauen, die an der offensichtlich verschlossenen Haustüre ruckeln. Es hat durchaus etwas befriedigendes. Und … irgendwas an diesen Frauen fasziniert mich. Ihr Umgang miteinander ist angenehm. Ein schönes Schauspiel.

Krach! Stille. Die Frauen erstarren in ihrer Bewegung und drei Augenpaare starren ungläubig auf die abgebrochene Türklinke in der Hand der Braunhaarigen. „Och nö“, stöhnt die Frau namens Elli. Die andere ringt fassungslos nach Worten. Bevor ich weiß, was ich tue, schlage ich mir mit der flachen Hand auf die Stirn. Durch das Klatschen richten die Frauen ihre Aufmerksamkeit wieder auf mich. Sie gehen ein paar Schritte zurück in den Flur um Abstand zwischen uns zu bringen. Ganz so, als hätten sie zuvor vergessen, dass ich noch da war. „Ach, kommt schon!“, bricht es aus mir heraus. „Jetzt tut doch nicht so, als wäre das meine Schuld! Ich weiß doch auch nicht, was hier läuft! Oder wo ich eigentlich bin!“

Die Frauen schauen sich lange an. Schließlich aber nicke die Braunhaarige nickt wiederwillig und gibt uns ein Zeichen, ihr in die Küche zu folgen. Als ich die Küche betrete lehnt sie bereits an der Theke und taxiert mich mit ihren haselnussbraunen Augen. „Warum bist du hier?“, beginnt sie ihr Verhör. Ich zucke mit den Schultern. „Ich weiß es gar nicht so genau. Ich erinnere mich nicht an die letzten Tage. Nur, dass es hell war und ich dann in eurer Küche stand.“ Ihre Augenbrauen zucken nach Oben. „Hm“, antwortet sie. Dann schaut sie auf Elli. „Und was soll’n wir jetzt mit dir machen?“, fragt diese. Ich seufze und verdrehe die Augen. „Also ehrlich! Ich weiß es doch auch nicht! Ich weiß nur, dass ich – warum auch immer – in eurer Küche stehe und nicht hier raus komme. Es ist ja nicht so, dass diese Situation für mich angenehm wäre! Ich schlage also vor, dass wir miteinander klar kommen, bis wir wissen, was hier läuft.“ Schweigen. Die Luft scheint mir greifbar zu sein vor Spannung. Auf einmal atmet die Frau mit den haselnussbraunen Augen scharf aus. Mit diesem Atemzug scheint alle Anspannung aus ihrem Körper zu entweichen. Sie nickt. „Ok“, murmelt sie. „Dann muss das wohl.“ Sie blickt mich an. Und es scheint mir ganz so, dass sie mich jetzt das erste Mal wirklich sieht. Ihre Augen taxieren mich von oben nach unten. Und wieder zurück. Ihr Blick scheint weicher zu werden. Sie nickt noch mal, stößt sich von der Theke ab. Sie steht nun nun direkt vor mir. Sie geht mir bis zu den Schultern. Als sie zu mir schaut, kann ich die blauen Sprenkel in ihren haselnussbraunen Augen erkennen. Mit einem Mal spüre ich den Drang, sie besser kennen zu lernen, sie in den Arm zu nehmen und sie zu beschützen. Aber ich dränge diesen Impuls zurück und verberge ihn ganz tief in mir. Ich versuche sie anzulächeln. Sie lächelt schief zurück. Dann streckt sie mir ihre Hand zur Begrüßung entgegen. „Ich bin Nicole“, sagt sie. Begeistert ist sie von meiner Anwesenheit eindeutig immer noch nicht. Ich nehme ihre Hand, schüttle sie und antworte: „David.“ Für einen Moment scheint die ganze Welt still zu stehen. Dann senkt sie den Blick ihrer haselnussbraunen Augen und lässt meine Hand los. Sie zeigt auf die andere Frau. „Das ist Elli“, sagt sie. Ich nicke Elli zu. Sie kommt mir entgegen und schüttelt meine Hand. „Du kriegst die Couch“, sagt sie abweisend.

Die Couch also. Die Frauen geben mir ein Kissen und eine dünne Decke und ich richte mich häuslich ein. Als ich versuche, meinen langen Körper irgendwie auf die kurze Couch zu bringen, höre ich Kichern aus dem Schlafzimmer. Ich wende den Blick und erhasche durch den dünnen Spalt der offenen Schlafzimmertüre einen Blick hinein. Nicole trägt eine hellblaue, lange und weite Hose und ein helles Oberteil mit dünnen Trägern. Der leichte Stoff schmeichelt ihren Bewegungen. Sie lächelt in das Zimmer, sie lächelt Elli an. Es ist ein schönes Lächeln. Dann schließt sie die Türe. Es wird dunkel in dem Zimmer, in dem ich liege. Ich höre, wie der Schlüssel im Türschloss herumgedreht wird. Und ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nie so einsam gefühlt wie jetzt. Alleine auf der Couch in der Wohnung zweier Frauen, die mich nicht bei sich haben wollen. Und ohne den Hauch einer Ahnung, warum ich hier bin.

Ich liege lange wach. Und da fällt mir zum ersten Mal auf, dass in dem Wohnzimmer keine Uhr hängt. Ich schlage die Decke zurück. Aus dem Schlafzimmer höre ich noch das Flüstern der Frauen. Die Stimmen klingen irgendwie beunruhigt. Ich gehe in die Küche und schaue mich um. Auch hier ist keine Uhr zu finden. Und als ich mir die Fenster ansehe, stelle ich fest, dass sie blind sind. Ich kann sie weder öffnen noch hinaus sehen. Ein blasses Licht erhellt die matte Scheibe. Aber ich kann nicht sagen, ob das Fenster nach Draußen führt, oder ein anderer Raum, in dem Licht angeschaltet wurde, dahinter liegt. Ich gehe zum Kühlschrank und mache ihn auf. Kälte schlägt mir entgegen. Und künstliches Licht. Der Kühlschrank ist leer. Aber das ist irgendwie nicht schlimm. Ich habe ohnehin keinen wirklichen Hunger. Ich schließe den Kühlschrank wieder und stehe von Neuem in dem dunklen Raum. Es dauert etwas, bis meine Augen sich an das fahle Licht gewöhnen. Ich bewege mich nicht. „Kannst du auch nicht schlafen?“ Ich schrecken zusammen und wirbele umher. Nicole steht hinter mir. Ich schaue sie an. Ihre Augen wirken so traurig. Ich nicke. „Ich auch nicht“. Ihre Augen füllen sich mit Tränen. „Schon seit Tagen nicht! Wobei ich nicht einmal weiß, wie lange ich überhaupt hier bin! Du kannst hier nicht wissen, wann Tag ist und wann Nacht! Es ist einfach nicht zu erkennen! Du wirst nicht hungrig und nicht müde! David! Irgendwas stimmt hier überhaupt nicht! Ganz und gar nicht!“ Sie beginnt bitterlich zu weinen. Ich zögere. Ich kenne diese Frau eigentlich gar nicht. Aber sie steht hier vor mir und weint. Ich kann nicht anders. Ich gehe zögerlich auf sie zu. Mit offenen Armen. Wie auf ein scheuen Tier. Sie weint unbeirrt weiter. Ich berühre sie sanft an ihrem Oberarm. Und sie lehnt sich ein Stück weit in diese Berührung. Ich nehme sie in den Arm, drücke sie so sanft und fest wie es nur geht gegen meinen Oberkörper. Ich will sie nicht verschrecken, aber ich muss sie beschützen! Sie erwidert diese Umarmung, legt ihre Arme um meinen Rücken. Und weint. So sehr. Und ich versuche da zu sein für sie.

„Nicole?“, tönt Ellis Stimme aus dem Schlafzimmer. Angelockt von dem Schluchzen ihrer Freundin. Mein Körper zuckt unter dem Gefühl, etwas verbotenes zu tun. Dabei habe ich Nicole doch nur um Arm. Nicole scheint es ebenso zu gehen, denn ihre Trauer wird abgelöst von einem lauernden Harren. Wir hören Schritte und schrecken voneinander zurück. Wie zwei Teenager, die Angst davor haben, bei etwas erwischt zu werden. Elli kommt in die Küche. Sie schaut uns an. Sieht die tränennassen Wangen ihrer Freundin und schaut mich vorwurfsvoll an. Ich reiße verteidigend die Hände herauf. Ich habe nichts gemacht!, ist das Signal. Elli kneift ihre Augen nur noch mehr zusammen. Sie nimmt Nicole mit bestimmter Sanftheit am Oberarm und leitet sie zurück ins Schlafzimmer. Ohne mich auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen. Ich bleibe stehen. Irritiert. Dann löse auch ich mich aus meiner Starre und sehe mich weiter in der Wohnung um.

Es gibt kein Radio, keinen Fernseher. Kein Telefon. Keine Verbindung nach Draußen. Ich erschaudere. Aber … was kann ich tun? Immerhin finden sich Gesellschaftsspiele und Bücher. Ich verdrehe unwillkürlich die Augen über diesen Gedanken. Und dann höre ich meine eigene Stimme reden. „Was bleibt anderes übrig?“, frage ich mich. Als Antwort zucke ich mit den Schultern. Es stimmt schon. Ich weiß nicht, wo ich bin noch warum ich hier bin oder ob und wann ich jemals hier raus komme. Das Beste, was ich tun kann, ist mir die Zeit sinnvoll zu verbringen. Also, verhältnismäßig sinnvoll. Ich komme mir trotzdem total irre vor.

Ich schaue sehe mir die Bücher an. Krieg und Frieden, 1984. Don Quijote, Leben 2.0, Mobby Dick. Im Namen der Rose. Und eine Sammlung Shakespeares Werke. Eine kurze Geschichte der Zeit. Der kleine Prinz … immerhin scheinen es interessante Bücher zu sein. Und einige Klassiker. Ich greife nach Arthur Conan Doyles „Die Abenteuer von Sherlock Holmes“. Dann mache ich das Licht bei dem Sofa an und beginne zu lesen. Es ist zumindest sinnvoller, als Panik zu bekommen, weil ich hier eingesperrt bin. Oder wach zu liegen. Oder vor der verschlossenen Schlafzimmertüre zu warten, bis die beiden Frauen wieder heraus kommen und wir uns unterhalten können.

Nach einer Weile, die ich in das Buch vertieft verbringe, kommen die Frauen aus dem Schlafzimmer. Ich bemerke sie gar nicht richtig, bis sie ganz vorsichtig den Kopf durch die Türe stecken. Dann tue ich nur noch so, als würde ich sie nicht bemerken, kann mich aber nicht mehr auf das Buch konzentrieren. Ohne etwas zu sagen nehmen die Frauen sich ebenfalls Bücher und setzen sich zu mir. Nicole verschwindet noch mal kurz und holt sich eine Decke, in die sie sich hinein kuschelt. Dann lesen wir alle. Ohne zu reden. Einfach nur so. Ich bin erstaunt, wie gut mir das tut. Einfach zusammen sitzen. Und jeder macht was für sich. Trotzdem wäre es mir lieber, wir würden uns auch unterhalten. Aber ich habe Sorge, die beiden anzusprechen. Schließlich bin ich der Eindringling hier. Sie wollen mich nicht. Daher kann ich nicht mehr erwarten, als diese seltsamen Momente der stillen Gemeinschaft.

„Ich hätte jetzt echt Lust auf einen Kakao“, bricht Nicole schließlich das Schweigen. Elli und ich schauen ungläubig von unseren Büchern auf. „Du hast Hunger?“, fragt Elli mit großen, ungläubigen Augen. Nicole schüttelt mit einem traurigem Lachen den Kopf. „Nein. Aber … kennt ihr das nicht? Ein gutes Buch, eine Kuscheldecke und eine heiße Schokolade gehören einfach zusammen. Daran habe ich mich gerade einfach erinnert. Und dann habe ich Appetit auf eine heiße Schokolade bekommen. Einfach, weil sie dazu gehört.“ Ich lache. Und ich nicke. Elli verdreht die Augen und versteckt sich wieder hinter einem Buch. Nicole schaut mich verstohlen an. Ich erwidere ihren Blick. Es kommt mir fast so vor, als würden wir ein Geheimnis teilen. Ich überlege kurz. Dann frage ich sie, warum die beiden überhaupt hier im Wohnzimmer waren. Und nicht mehr im Schlafzimmer. Elli antwortet. Abweisend wie gewohnt. Ohne ihren Blick vom Buch zu heben. „Es ist unsere Wohnung“, raunzt sie. Mehr nicht. Nicole lächelt etwas betreten. Dann zuckt sie mit den Schultern und lehnt sich etwas zu mir. „Wir konnten nicht schlafen und kamen uns im Schlafzimmer dann doch etwas … eingesperrt vor“, erklärt sie mir halblaut. Ellis missbilligender Blick hebt sich ein Stück weit von den Seiten. Als wolle sie uns wissen lassen, dass sie jedes Wort hört. Ich muss einräumen, dass ich das durchaus nachvollziehen kann. Und ich komme mir wieder schuldig vor, weil ich der Eindringling in ihrem kleinen Leben bin. Ich wende mich wieder dem Buch zu.

So vergingen einige Tage. Naja, was heißt hier Tage? Es kam kein Licht durch die blinden Fenster und nirgends in der Wohnung ist eine Uhr. Wir haben nach wie vor keinerlei Zeitgefühl. Wir wissen nicht, wann es Tag ist und wann Nacht. Wir werden nicht hungrig und wenn wir uns zum Schlafen legen, werden wir doch nicht müde. Und trotzdem schweigen wir über die allgegenwärtige Gewissheit, dass hier irgendwas ganz und gar nicht stimmt.

Es ist eine unaussprechlich einsame Zeit. Die beiden Frauen meiden mich größtenteils. Und auch, wenn die immer wiederkehrenden Momente des gemeinsamen Lesens eine Art Waffenruhe zu sein scheinen, reden wir kaum miteinander. Wenn wir uns unterhalten, dann nur mit wenigen Worten über das Notwendigste. Und zumeist ist es Nicole, die sich mir zuwendet. Auch, wenn sie dafür meist vorwurfsvolle Blicke von Elli kassiert, die mir gegenüber nach wie vor sehr abweisend auftritt. Und immer wieder probieren wir aus, ob die Wohnungstüre vielleicht doch endlich aufgeht. Einmal, als ich es wieder probiert habe, komme ich an dem Schlafzimmer der beiden Frauen vorbei. „Du hast doch keine Ahnung, wer er überhaupt ist!“, klingt Ellis Stimme durch die geschlossene Türe. Ich bleibe stehen. „Er kann einer von denen sein, die uns hier fest halten!!“, schreit sie weiter. Mein Atem stockt. Wissen die beiden etwa, wer uns hier fest hält?! „Das Gleiche kann ich auch über dich sagen! Ich weiß nichts über dich!!“, kontert Nicole und es wird still. Ich spüre, wie es mir kalt den Rücken hinunter läuft. Ich dachte, die beiden seien Freundinnen! Was ist hier los?!

Bevor ich weiß, was ich tue, klopft meine Hand an die Türe des Schlafzimmers. Ich trete ein. Die Frauen stehen sich gegenüber. Sie funkeln sich an. Und alles an ihnen spricht von Streit. Elli verdreht die Augen und schaut mich an. „Raus!“, ist ihre herzliche Begrüßung. „Nein“, antworte ich. „Nach dem, was ich gerade gehört habe, müssen wir echt reden!“ Sie funkelt mich wütend an. „Du belauscht uns?“, faucht sie. Ich lehne mich ihr ein Stück weit entgegen. „So leise wart ihr echt nicht. Und die Wohnung ist nicht besonders groß.“ Elli schnaubt. Nicole reibt sich die Stirn. „Worüber willst du reden?“, fragt sie sichtlich genervt und angestrengt. Ich zögere. Mit fällt auf, dass ich das nicht wirklich durchdacht habe. „Wisst ihr, wer uns hier her gebracht hat?“ Die Frauen schütteln resigniert den Kopf. „Aber ihr unterstellt den jeweils anderen, dass sie was damit zu tun haben?“ Nicole errötet. Sie scheint erneut den Kopf schütteln zu wollen. Dann seufzt sie. „Wir können es halt nicht wissen.“ Sie schaut Elli an. „Elli war schon hier, als ich hier ankam. So wie du. Ich schritt durch ein grelles Licht und stand plötzlich in der Küche. Elli nahm mich nett auf, aber … ich weiß nicht.“ – „Es hat sich halt nichts verändert“, fährt Elli fort. Dann wendet sie sich mit zu. „Und dann kamst du. Nicole war kein großes Problem. Wenn sie mir hätte was antun wollen, hätte ich sie fertig gemacht.“ Nicoles Protest auf Ellis Einschätzung verhallt ungehört unter Ellis weiteren Worten: „Aber bei dir ist das anders. Ich kann dich nicht einschätzen.“ Ich nicke. „Dann bist du am längsten hier?“, frage ich sie und sie nickt. „Das wird dir nur nichts bringen, denn bei mir war das genau so wie bei euch. Ich hatte gehofft, all das lösen zu können, aber ich habe keinerlei Anhaltspunkte, was hier los ist! Und einfach so zu tun, als wäre nichts, funktioniert einfach auch nicht!“ Ich nicke wieder. Vorsichtig gehe ich einen Schritt auf sie zu. „Das macht Angst, oder?“ Elli lacht wütend auf. „Verdammt richtig!“ Ich gehe noch einen Schritt auf sie zu. Ganz, ganz vorsichtig. Ich sehe, wie sie sich sträubt. Und trotzdem weicht sie nicht zurück. „Uns geht’s genau so“, sage ich so sanft wie ich kann. Aus dem Augenwinkel sehe ich Nicole nicken. Elli kneift ihre Augen zusammen. „Ich will dir nichts tun. Wir sind alle im gleichen Boot“, fahre ich fort und bin nun nah genug, um ihr ganz vorsichtig die Hand auf den Oberarm zu legen. Sie schaut auf ihren Arm. „Ich hab‘s kapiert“, grummelt sie. „Du brauchst mich also nicht zu behandeln wie ein scheues Tier.“ Ich höre Nicole überrascht auflachen. Als wir sie anschauen zuckt sie mit den Schultern und sagt: „Ich weiß, was du meinst. Trotzdem. Er ist gut im trösten.“ Elli schaut mich misstrauisch an. Ihre Mundwinkel wandern nach rechts. Sie geht einen Schritt auf mich zu. Ich nehme sie vorsichtig in den Arm. Die Spannung in ihrem Körper ist deutlich zu spüren. Erst nach und nach entspannt sie sich. Und ihre Tränen benetzen mein Hemd.

Elli erzählt, wie einsam sie ist. Wie ratlos. Und wie machtlos. Ich stehe nur da und halte sie. Nicole kommt dazu und streichelt ihr sanft über den Rücken. Als sie sich wieder löst hat sich etwas verändert. Ich schau die beiden Frauen an und sehe, wie sich das Misstrauen ein Stück weit verändert hat. Natürlich vertrauen sie mir nach wie vor nicht wirklich. Aber sie scheinen bereit zu sein, mich in der Wohnung zu dulden.

Wir verbringen nach wie vor viel Zeit im Wohnzimmer mit Lesen. Aber die Qualität dieses Zusammenseins hat sich verändert. Hin und wieder lesen wir einander was vor. Oder wir spielen Gesellschaftsspiele. Oder wir reden darüber, wer wir sind. Was wir erlebt haben, bevor wir – warum auch immer – in dieser Wohnung gelandet sind. Leider ergibt sich auch daraus kein Hinweis, warum wir hier sind. Dennoch. Seit langer Zeit fühle ich mich nicht mehr einsam. Und zum ersten Mal seit meiner unfreiwilligen Ankunft hier stellt sich die Frage, was hier los ist, in den Hintergrund.

Ich sitze mit Elli im Wohnzimmer. Wir lesen, natürlich. Nicoles Buch liegt auf ihrer Decke, wo sie es hingelegt hat. Sie selbst ist ins Badezimmer gegangen, um die Zähne zu putzen. Sie sagt, sie braucht das. Ich kann das irgendwie verstehen. Es ist ein Stück Gewohnheit. Auf einmal erschüttert ein Schrei das Apartment. Ellie und ich schauen uns an. Kreidebleich. Ich springe auf, dem Schrei entgegen. Zu Nicole! Wo ist sie? Noch im Badezimmer? Tatsächlich. Hier steht sie. Die Zahnbürste liegt auf dem Boden neben ihr. Sie hockt nur da. Gekrümmt von Entsetzen und Schmerzen. Umgeben von Zahnpasta, Tränen und Blut. Blut? Ich spüre, wie ich noch weiter erbleiche. Und bevor ich weiß, was ich tue, stürme ich auf sie zu und nehme sie in den Arm. Ich halte sie ganz fest. „Was ist passiert?!“, frage ich und versuche die Panik in meiner Stimme runter zu schlucken. Sie hält zitternd ihr blutiges Handgelenk. Hat sie etwa … hat sie versucht sich umzubringen?! Warum? Ich dachte, wir hätten uns langsam mit unserer Situation abgefunden. Was hat sich verändert?! Sie wendet mir ihr Gesicht zu. Ihre tränennassen, haselnussbraunen Augen sind weit aufgerissen und voller Panik. „Sie … sie ist einfach aufgegangen!“, weint sie. Ich umfasse ihren Arm. Versuche, die Blutung zu stillen. Dann stocke ich. „Moment … was??!“, erwidere ich ungläubig, als ich verstanden habe, was sie gesagt hat. „Einfach aufgegangen?“, wiederhole ich ungläubig. „Wie soll das denn … “ noch bevor ich den Satz zu Ende sprechen kann, ihr erklären kann, dass Arme nicht einfach auf gehen, schreit sie auf. Pure Qualen klingen aus ihrer Stumme. Ihr anderer Arm beginnt zu bluten. Ich sehe, werde Zeuge, wie sich ihr Gelenk an der Ader einfach öffnet. Als würde ein unsichtbarer Faden die Haut aufziehen. Ich spüre, wie meine Gedanken neblig werden. Das ist doch nicht möglich! Das konnte nicht sein! Ich schaue hilfesuchend zu Elli, die regungslos und den Tränen nahe an der Türe zum Bad steht. Sie zögert. Dann dreht sie sich um und rennt weg. Ich wende mich wieder Nicole zu. Hilflos. Was zur Hölle ist hier los?!

Elli kommt zurück. Sie presst einen Erste-Hilfe-Kasten ganz eng an ihren Körper. Aber sie gibt ihn mir nicht. Sie starrt auf Nicole. Völlig gelähmt. Unfähig, die Schwelle zu übertreten. Ich kann es ihr nicht einmal verübeln. Nicole schaut auf. Tränen rennen ihre Wangen hinunter. Erst dieser Blick holt Elli aus ihrer Starre. Sie zuckt. Der Verbandskasten löst sich von ihrem Oberkörper. Sie kniet sich hin und schiebt ihn mir zu. Ich versuche ihn mit einer Hand zu öffnen, während ich mit meinen anderen Arm Nicole fest an mich drücke. Als würden ihre Schmerzen dadurch vergehen. Als er offen ist, hebe ich ganz vorsichtig Nicoles Gesicht dem Meinen zu und sage ihr, dass wir jetzt ihre Wunden verbinden. Sie nickt. Dann hält sie mir ihre blutenden Arme hin. Ich werde bleich. Ich wende mich Elli zu. „Elli, mach ein Handtuch nass, wir müssen die Wunden säubern“, weise ich sie an. Sie starrt unverändert auf Nicole. „Elli!“, wiederhole ich und ihre Starre wird durch ein durchgehendes Zucken aufgelöst. Apathisch geht sie zum Waschbecken und tut, was ich ihr auftrage. Wir tupfen das Blut ab. Legen eine mit Salbe bestrichene Kompresse auf die Wunde. Erst der eine Arm, dann der andere. Ich zwinge mich, Nicoles Arme ohne Zittern zu verbinden. Ich versuche, ruhig zu bleiben und sie dadurch zu beruhigen. Auch, wenn mir überhaupt nicht danach ist! Viel lieber würde ich schreien und weinen und mich unter der Bettdecke verstecken! Ich habe etwas gesehen, was nicht möglich ist! Und dabei wurde jemand verletzt, den ich mag. Wirklich mag. Ich stocke und sehe Nicole an. Ich mag sie wirklich. Diese Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag. Und in dieses seltsame Gefühl der Verletzlichkeit, der Entdecktheit, steigt eine Erinnerung empor. Verdammt! Ich weiß, wer sie ist! „Du bist Nicky!“, rufe ich, bevor ich weiß, was ich tue … oder was das wirklich bedeutet. Nicole zuckt unter diesen Worten zusammen und schaut mich entsetzt an. „Was?!“ Ich halte ihren Blick. „Du bist seine Nicky! Adrian! Er ist dein Freund!“

Bei dem Namen meines Bruders erweitern sich Nicoles Augen noch mehr. Panik schleicht sich in ihren Blick. Und eine Erinnerung. Ich sehe, wie eine schreckliche Erinnerung sich den Weg durch ihren Kopf bahnt, bis in ihre haselnussbraunen Augen mit den blauen Sprenkeln. Sie bricht den Blickkontakt zu mir ab. Und ruckartig zieht sie ihre Arme fest an ihren Körper. Die Mullbinde, die ich ihr gerade angelegt hatte, baumelt in dieser plötzlichen Bewegung nach. Vollkommen lautlos. Still. Alles ist still. Ich beobachte Nicole. Nicky. Adrians Nicky. Warum hat sie das so verletzt?

„Nein“, flüstert sie schließlich. „Er ist nicht mein Freund. Er hat mich verlassen.“ Dann schaut sie mir direkt ins Gesicht. Ihr Blick ist kalt und einsam und so unbeschreiblich verletzt. Und mit einer tiefen Bitterkeit in ihrer Stimme fährt sie fort: „Darum habe ich mich umgebracht!“

Nach dieser Offenbarung wird Nicole still. Ihre haselnussbraunen Augen mit den blauen Sprenkeln wenden sich nach Innen. Sie schaut mich nicht mehr an. Sie steht auf. Sie schaut auf ihren unfertig verbundenen Arm. Sie versucht ihn sich selbst fertig zu binden. Als ich ihr helfen will, wendet sie sich von mir ab. Elli reicht ihr die Hände. Ohne die Schwelle zum Badezimmer zu überschreiten. Nicole lässt sich von ihr den Arm fertig verbinden. Dann gehen sie raus aus dem Zimmer. Nach kurzer Zeit höre ich die Türe vom Schlafzimmer ins Schloss fallen. Und ich fühle mich wieder unbeschreiblich einsam. Hier. Allein auf dem blutverschmierten Boden des Badezimmers. Ich seufzte. Ich versuche, irgendwie das Chaos in meinem Kopf zu sortieren. Was ist da gerade passiert? Was … ich … Tränen zerplatzen auf den Fliesen. Es sind meine. Ich sacke noch tiefer in mich zusammen. Was soll ich nur tun?

Ich tue erstmal gar nichts. Ich bleibe auf diesem kalten, blutverschmierten Fliesenboden sitzen und weine. Den Kopf tief in die Hände vergraben. Ich bin völlig überfordert. Schließlich, als ich mich endlich ausgeweint habe, rutsche ich zurück und lehne mich gegen die Wand. Ein tiefer Seufzer durchzieht den sonst stillen Raum. Es ist mein Seufzer. In was für eine absurde Situation habe ich mich nur gebracht. „David … du sitzt echt in der Scheiße!“, füllt meine Stimme den Raum. Und irgendwie versuche ich ein weiteres Mal, Ordnung in all die Geschehnisse der letzten Zeit zu bringen. Ich habe mich in die Freundin meines Bruders verliebt! Das ist das erste, was mir einfällt. Und bei dem Gedanken fühle ich mich wie ein geprügelter Hund. Mein Bruder, Adrian, war immer der Stolz der Familie. Charmant, erfolgreich, intelligent. Er schloss seine Ausbildung zum Chirurg mit Bravour ab und ist immer das helle Licht, mit dem ich geblendet werde. Was ich hingegen geleistet und auf die Beine gestellt hatte, war vollkommen nebensächlich. Immer ging es nur um ihn. Warum kannst du nicht so sein wie Adrian. Sieh mal, Adrian hat schon dies und das. Adrian kann jenes. Adrian ist schon verlobt. Warum kannst du keine … verlobt … Nicole. Meine Nic … nein, seine Nicole. Seine Nicky. Ich hatte nie wirklich viel Zeit mit Nicole verbracht … also, vorher. Bevor wir … hier waren, wo auch immer das ist. Ich habe sie auf der Verlobungsfeier meines Bruders gesehen, sicher. Aber ich erinnere mich nicht wirklich an sie. Ja, sie sah toll aus und wirkte vornehm und kultiviert. Und sie war außerhalb meiner Liga. Das ließen sie mich alle zu Genüge spüren. Ich versuche mich zu erinnern, ob sie glücklich gewirkt hatte, auf der Feier. Aber ich kann es nicht mehr sagen. Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich. Aber muss sie wohl. Schließlich war sie mit Adrian zusammen. Dem Adrian. Ich spüre ein spöttisches Lachen aus mir herausbrechen. Dann seufze ich wieder. Naja. Wenn sie mit meinem Bruder zusammen ist, habe ich ohnehin keine Chance. Auch, wenn er sie verlassen hat, bleibt sie tabu … warum er sie wohl verlassen hat? Und warum … plötzlich erstarre ich. Erst jetzt sacken Nicoles Worte wirklich tief in mich ein. „Darum habe ich mich umgebracht.“ … aber … warum ist sie dann hier??!! Warum ist sie dann lebendig?? Oder … ist sie gar nicht lebendig? Aber … heißt das, dass Elli und ich ….

Elli reißt mich aus dem Gedanken. Sie steht in der Türe. Sie blickt auf das Blut. Ich blicke auf sie. Endlich reißt sie den Blick von der riesen, roten Lache los und räuspert sich. „Nicole will mir dir sprechen“, lässt sie mich tonlos wissen. Dann dreht sie sich um und geht. Flüchtet geradezu. Und ich kann es so gut verstehen. Ich seufze und rappel mich auf. Gehe zu ihr … zu seiner Nicky …

Es ist das erste Mal, dass ich das Schlafzimmer von Innen sehe. Ein großes, gusseisernes Bett steht unter dem blinden Fenster. Ansonsten ist alles eher schlicht gehalten. Ein Schrank, ein Schreibtisch. Ein Regal. Nicole sitzt auf dem Bett. Die verbundenen Arme neben sich tief in die weiche Matratze gestammt. Die Matratze biegt sich unter Nicoles Körper. Schmiegt sich an. Nicole ist in sich zusammen gesunken. Den Blick nach unten gerichtet. Sie sieht so verloren aus. Und ich will sie trösten. Aber ich rühre mich nicht vom Fleck. Sie seufzt. Ihre Arme entspannen sich, was ihre Schultern ruckartig absacken lässt. Sie blickt mich an. Ihre Augen sind rot und verquollen. Ich merke, wie uns beiden die Tränen wieder in die Augen steigen. Ihr Kopf zuckt und weist mich an, mich neben sie zu setzen. Ich komme mir ziemlich verloren vor, neben ihr. So sitzen wir eine Weile. Beide vollkommen einsam. Es fühlt sich sehr, sehr seltsam an. Und ich bin dankbar, als sie schließlich ihren Kopf an meine Schulter legt. „Was ist das Letzte, woran dich erinnerst?“, fragt sie mich. Eine Erinnerung steigt in mir hinauf und ich schlucke. Ich zucke mit den Schultern. Sie schaut mich an. Ich wende den Blick von ihr ab. „Die letzte Erinnerung, an dein Leben, meine ich“, beharrt sie. Nun schaue ich sie doch an. „Du meinst, wir sind tot?“, frage ich ungläubig. Nun zuckt sie mit den Schultern. „Irgendwie sowas, ja. Ich meine … Ellis letzte Erinnerung sind die hellen Lichter eines Autos. Und meine …“ sie hebt einen ihrer verbundenen Arme ein Stück weit und lässt ihn wieder auf ihren Schoß plumpsen. „Naja, du weißt schon …“ Wir schweigen eine Weile betreten. Sie lehnt weiter auf meiner Schulter. Ich lege meinen Arm um sie. So sitzen wir erstmal da.

„Woher kennst du Adrian“, fragt sie schließlich und ein Stich geht mir durchs Herz. Scheinbar hatte ich wirklich überhaupt keinen Eindruck bei ihr hinterlassen. Naja, wir haben uns ja auch nicht oft gesehen … und ob wir einander wirklich vorgestellt wurden, weiß ich schon gar nicht mehr. Außerdem ist es ja lange her. Ich weiß mich zusammen. „Familie“, nuschel ich kaum hörbar und nebenbei. Ich spüre, wie ihre Augen sich ungläubig weiten. Sie löst sich von meiner Schulter und schaut mich fassungslos an. Dann dreht sie mein Gesicht dem ihren zu und mustert mich eindringlich. „Du bist sein Bruder!“, platzt es aus ihr hervor. „Der niedliche Bruder, der mich auf irgendeiner Feier von ihm so völlig ignoriert hat!“ Nun schau ich sie fassungslos an. Niedlich?! Ignoriert?! Aber alles, was meinem Mund entwischt ist ein sehr, sehr dummes: „Das war deine Verlobung!“

Nicole fällt alles aus dem Gesicht, als sie das hört. Sie reibt sich die Stirn. „Ja … da war ja was …“, murmelt sie schließlich. „Ich verstehe auch nicht, warum er dich verlassen haben sollte“, schieße ich weiterhin eine Salve dummer Sätze in ihre Richtung. Sie lacht bitter auf. „Ich ja auch nicht! Er war mein Alles! Und dann halt nicht mehr! Dann war er weg.“ – „Aber er hat sich solche Sorgen gemacht, als du … also … als …“ – „Als ich mich umgebracht habe“, beendet sie meinen Satz mit einer kalten Miene. Ich nicke verschämt. Dann seufze ich. „Er hat es mir erzählt“, flüstere ich. Und ich erzähle ihr von meiner letzten Erinnerung.

Ich erzähle ihr, wie aufgelöst mein Bruder war, weil sie einfach verschwunden schien. Vom Erdboden verschluckt. Und wie er mich eingeladen hatte, zu sich nach Hause. Als seinen Bruder. Wir aßen und er hatte erzählt, wie besorgt er war. Dass er Angst hätte, sie niemals wieder zu sehen. Und wie sehr er sie vermissen würde. „Sonst erinnere ich mich nicht an viel. Wenn wir wirklich tot sind, wird wohl irgendwas auf dem Heimweg passiert sein“, schließe ich den Bericht. „Keine Ahnung … Glaubst du wirklich … das wir tot sind?“ Nicole zuckt mit den Schultern. „Hast du eine andere Erklärung?“

Nachdem Elli, Nicole und ich erkannt hatten, dass wir tot sind, zog überraschend schnell wieder eine Form des Alltages in unsere zeitlosen Tage. Bücher, Spiele. Hier und da ein bisschen Reden. Geschichten, aus unseren viel zu früh beendeten Leben. Und immer schwebe über uns die unausgesprochene Frage, wie lange wir jetzt noch hier bleiben würden. War das schon der Tod? Oder nur der Limbus? Ich meine … auch, wenn ich mir das Fegefeuer anders vorgestellt hätte … schön ist das hier sicherlich nicht.

Wie so oft sitzen wir im Wohnzimmer und lesen unsere Bücher. Ich hatte mir dieses Mal „Das kunstseidende Mädchen“ gegriffen. Nicht die leichteste Lektüre. Vor allem, wenn man immer wieder davon abgelenkt wurde, weil man jemand anderen beobachtete. Ich betrachtete sie verstohlen. Ob ich wohl eine Chance bei ihr hätte? Jetzt? Hier? Ohne meinen Bruder? Im Tod? Sie ist in ihr Buch vertieft. „Der kleine Prinz“. Immer wieder huschte ein leises Lächeln über ihre feinen Lippen. Von meinen Blicken bemerkte sie nichts. Oder? Sie sieht auf. Ganz plötzlich. Gezielt in mein Gesicht. Mir läuft es heiß und kalt den Rücken herunter. Sie weiß es!, schießt mir durch den Kopf! Sie weiß, dass ich sie beobachtet habe! Ob sie auch weiß, was ich gedacht habe? Sie lächelt. Ich lächle zurück. Und hoffe, dass es nicht allzu gequält wirkt. Da erstarrt ihr Blick, wandelt sich in völlige Fassungslosigkeit. Und noch bevor ich weiß, was passiert ist, höre ich neben mir ein Keuchen. Es kommt aus Ellis Richtung. Und wie zur Bestätigung japps Nicole: „Elli?“ Ihre Stimme überschlägt sich fast vor Angst. Sie steht auf, will zu ihrer Freundin und ist doch unfähig zu ihr zu gelangen. „Elli!“, ruft sie noch schriller. Ich löse meinen Blick von ihr und wende mich Elli zu, die auf dem Sessel neben mir sitzt. Ich erschaudere. Elli zittert, kann sich kaum noch auf dem Sessel halten. Ihre Augen sind so weit nach hinten gedreht, dass nur noch das Weiß zu sehen ist. Ich sprinte zu ihr, lege meine kühle Hand auf ihre Stirn, in der Hoffnung, sie so zu beruhigen. Aber sie zittert nur weiter. „Elli“, sage ich in einer möglichst tiefen, sicheren Stimme. Aber wieder ist mir nach so ziemlich allem anderen als danach, ruhig zu bleiben. Elli reagiert nicht. Nicole hockt neben mir. Ihre Hände vor den Mund geschlagen betrachtet sie fassungslos ihre Freundin. Und ich spüre ihre Erwartung, dass ich ihr doch helfen muss. Aber wie? Elli jappst weiter. Ich kratze all mein medizinisches Wissen zusammen. Aber sie hat nichts im Hals stecken und davon, dass sie Anfälle hat, weiß ich auch nichts … davon ganz abgesehen sind wir tot! Da sollte man keine Anfälle mehr haben! „Mama!“, jappst Elli plötzlich. „Mama, Papa, nein!“ – „Elli! Wovon redest du! Wir sind es! Nicky und David! Hörst du uns?!“ Elli stöhnt. „Bitte, nein, nicht! Ich wache wieder auf! Bitte, gebt mir noch ein bisschen mehr Zeit! Ich schaffe das! Gebt mich nicht auf, bitte. Bitte! Mama! Papa! Bitte!! Ich bin noch da!! Bitte!!“ Nicole und ich schauen uns an. Fassungslos. Alles an uns erschaudert. Wovon spricht sie? Auf einmal beginnt das gesamte Apartment zu brummen. Ich weiß nicht, ob dieses Brummen meine Ohren oder meinen Bauch zusammenpresst. Und immer wieder gibt es dieses unerträgliche, schrille Pipen. Ich greife nach Nicoles Hand, drücke die andere auf meine Ohren. Nicole erwidert meinen Griff. Da wandelt sich das Brummen in eine tiefe durchdringende Stimme. „Gibt es denn wirklich keine Möglichkeit, dass sie wieder aufwacht, Doktor?“, tönt es. Ein Mann. Ein anderer Antwortet. Begleitet von einem Rascheln, als würde jemand mit einem hohen Kragen seinen Kopf schütteln. „Leider nicht, Mr Allister. Die Gehirnfunktionen ihrer Tochter haben sich über die letzten Wochen nicht verbessert. Sie jetzt noch künstlich am Leben zu erhalten wird nichts an ihrer Situation ändern. Sie wird nicht mehr aufwachen.“ Das Weinen einer Frau. Mehr Rascheln. Elli wimmert. „Bitte“, fleht sie immer wieder. Aber mittlerweile ist es mehr ein Flüstern als ein Rufen. „gebt mich noch nicht auf.“ Ein Grunzen. Es erinnert mich für einen Sekundenbruchteil an meinen Vater. So klang er, wenn er einer Sache zugestimmt hat, die er eigentlich nicht wollte. Die Frauenstimme weint noch heftiger. Und immer wieder wimmert Elli ihr flehendes Bitten. Dann hört das unerträgliche Pipen auf. Elli zuckt noch ein paar Mal. Dann entspannt sich ihr Körper. Ihre Augen rollen zurück in die normale Position. Und sie schaut uns an. Unendlich traurig. Und unendlich frei. „Lebt wohl“, flüstert sie. Dann löst sie sich langsam in Licht auf. Flimmert kurz. Dann verlischt sie. Und ist fort.

Nicole und ich schauen vollkommen fassungslos auf den leeren Sessel. Den Sessel, auf dem vor wenigen Minuten noch Elli gesessen hatte. Eine etwas eigenwillige aber sehr gütige Frau. Ich spüre den nassen Film auf meinen Wangen und mir fällt auf, dass mein Gesicht tränennass ist. Nicole ist es, die mich zurück in die Wirklichkeit holt … wenn man das überhaupt so nennen kann. Sie drückt meine Hand, die noch immer die ihre fest umklammert hat. Ich wende mich ihr zu. Ihr Kopf hängt und ihre karamellbraunen Haare verdecken jegliche Gesichtszüge. Sie sieht so schrecklich einsam aus. Ich umarme sie, halte sie ganz fest, stehe ihr bei. Unter meiner Berührung schluchzt und bebt ihr Körper. Sie weint bitterlich um ihre Freundin. Und ich kann nichts tun, um sie zu trösten.

Als sie sich schließlich ausgeweint hat, erschlafft ihr Körper in meinen Armen. Ich halte sie fest. So lange sie es braucht. Schließlich aber schnieft sie ein letztes Mal, fährt mit ihrem Handrücken über ihre Nase und schaut mich mit ihren tränenroten Augen an. Sie zuckt mit den Schultern. „Sieht so aus, als seien wir doch noch nicht tot“, murmelt sie schließlich. Ein überraschtes Lächeln huscht über meine Lippen. Meine tapfere, starke Nicole. Und bevor ich weiß, was ich tue, ziehe ich Nicole an mich und drücke ihr einen festen, warmen Kuss auf die Stirn. Ich liebe sie.

Als sich meine Lippen von ihrer Stirn lösen, schaut Nicole etwas bedröppelt. Ich schaue verlegen zurück. Plötzlich lehnt sie sich in einer fließenden Bewegung zu mir und küsst mich. Hingebungsvoll, lockend. Leidenschaftlich. Ich erwidere ihren Kuss, spüre, wie meine Gedanken neblig werden. Nur leise klingt eine Stimme in meinem Kopf, die mich davor warnt, dass ich nicht gemeint bin. Aber ihr Duft steigt mir in die Nase und macht mich zu einem Zuschauer, während mein Körper vollkommen selbstständig aggiert. Meine Hand greift entschlossen und sanft an ihren Hals. Dabei streichen ihre weichen Haare über meine Haut. Sie kniet mich hin, zieht mich an ihren Lippen empor zu ihr, und greift grob an mein Hemd. Zerrt daran, als würde es dadurch verschwinden. Die Stimme in meinem Kopf schreit auf. Laut. Schrill. Ich greife ihren verführerischen Körper an den schmalen Schultern und drücke sie von mir fort. Sie schaut mich an. Ihre haselnussbraunen Augen verschlingen mich. Alles an mir will ihr nachgeben. Und dennoch frage ich die zerstörerische Frage: „Willst du das wirklich?“

Nicoles Augen flimmern. Ihr Blick richtet sich nach innen. Dann sieht sie mich wieder an. „Du nicht?“, fragt sie zurück. Ich komme mir vor, als würde ich schmelzen. Und dennoch halte ich sie von mir fern. „Mehr als alles“, hauche ich sehnsuchtsvoll. Sie nimmt meine Hand sanft von ihrer Schulter und führt sie zu ihrem Mund. Sie drückt einen warmen, sanften Kuss auf meine Handinnenfläche. Ich spüre, wie eine Woge der Begierde mich zu überschwemmen droht. Ich beiße mir auf die Unterlippe. Ich will sie! So unbedingt! Sie schaut mich mit einem tiefen Blick an. Traurigkeit schimmert hindurch. Aber auch die Entschlossenheit zu leben, so lange wir es noch können. „Dann genieß es“, haucht sie. Und ich lasse alle Zurückhaltung gehen. Ich drücke ihren weichen Körper ganz eng an mich, lasse sie spüren, wie sehr ich sie will. Ich fahre mit meinen Händen unter ihr Oberteil und spüre die warme, zarte Haut ihres makellosen Rücken. Unsere Küsse werden immer heißer, immer dringlicher, als sie sich von mir löst und ihre Arme empor hebt. Meine Hände ziehen ihr Oberteil über ihren Kopf und entblößen ihre schönen Brüste. Ich beuge mich zu ihnen hinab und liebkose sie. Nicole seufzt genussvoll unter meiner Berührung. Ich löse ihren Bh und entdecke die ganze Pracht dieser wunderschönen Brüste. Die vor Lust harten Nippel, die sanften Rundungen. Sie berührt meinen Hals, fährt von oben in mein Hemd, streichelt über meinen Rücken. Dann sieht sie auch mir das Oberteil aus. Mit der Ungestühmheit der dringenden Begierde. Als sie es in den Händen hält, lehnt sie sich kurz zurück und betrachtet mich. Sie lächelt sinnierend. Dann scheißt sie das Hemd weg und stürzt mir entgegen. Ich lasse mich von ihrem Schwung mitreißen. Wir sinken auf den Boden. Ich fahre immer und immer wieder über ihre Haut, gehe immer tiefer, erkunde und entdecke sie, genieße ihre Berührung, zerfließe. Und immer wieder küssen wir uns. Überall hin. Und vergehen in einem Meer von Lust.

Wir haben miteinander geschlafen, Nicole und ich. Einfach so. Direkt im Wohnzimmer auf dem Boden. Da wo wir waren, so wie wir waren. Irgendwann haben wir eine Wolldecke von dem Sofa geangelt, die nun auf uns liegt. Nicole drückt sich ganz eng an meine Seite, streift mir sanft über die Brust. Ich derweil lächle sie an und fahre ihr durch ihr weiches, karamellbraunes Haar. In mir steigt die Frage empor, wie es nun weiter gehen soll. Aber ich möchte den Moment nicht zerstören. Und überhaupt … was soll das in unserer Situation überhaupt bedeuten? Sie blickt mich irritiert an. „Was ist das?“, fragt sie und ich versuche meinen Halt zu recken, um zu entdecken, was sie wohl ungewöhnliches auf meiner Brust gefunden hat. Sie verdreht die Augen. „Kannst du das nicht hören?“, spezifiziert sie ihre Nachfrage. Als ich lausche höre ich tatsächlich ein Murmeln. Ich strenge mich an, aber ich kann nicht wirklich was verstehen. „Was ist das?“, frage nun auch ich und erst dann fällt mir auf, dass sie ja die gleiche Frage gestellt hatte. Sie aber legt den Finger auf die Lippen und lauscht angestrengt. Plötzlich reißt sie ihre Augen auf. „Das ist Adrian!“, ruft sie erstaunt aus. Ich schau sie irritiert an. „Adrian?! Was sagt er?“ Nicole lauscht weiter. Ich versuche auch zu lauschen, aber höre nicht viel mehr als Murmeln. Nicole aber scheint etwas zu verstehen, denn ihr Gesicht erzählt eine wundersame Geschichte. Ihr Blick beginnt irritiert und besorgt, wandelt sich dann in einen warmen Ausdruck, ein Lächeln gar. Dann aber wird er immer ungläubiger, immer fassungsloser. Und ihre wunderschönen, haselnussbrauen Augen füllen sich nach und nach mit feuchten Tränen. Ihr Hals reckt sich immer höher, als würde ihr das dabei helfen, die gemurmelten Worte zu verstehen. Ich beobachte dieses Mienenschauspiel gleichermaßen fasziniert und besorgt. Und dann zieht sie plötzlich ruckartig ihre Hand zu sich, schreit. Als hätte sie sich die Hand verbrannt. Die Tränen rennen nun unhaltbar über ihr bleiches Gesicht. Eine Türe knallt. Stille. Das Murmeln ist weg. Alles, was an dieses seltsame Erleben erinnert, ist Nicole, die weinend an den Sessel gekauert sitzt. Nackt. Das Gesicht hinter ihren Armen verborgen. Die Beine angezogen. Und die einst schneeweißen Verbände an ihren Unteramen tönen sich nach und nach blutrot.

Ich rappel mich hoch, nehme die Decke und lege sie schützend um das zitternde, wimmernde Bündel, zu dem Nicole geworden ist. Ich versuche sie warm zu halten. Zu beschützen. Und doch ist mir klar, wie sehr ich die ganze Zeit schon darin versage. Ich konnte sie nicht davor beschützen, dass mein Bruder sie verlassen hat. Ich konnte sie nicht davor beschützen, dass sie hier her gekommen ist. Ich konnte sie nicht vor ihren Wunden beschützen noch davor, dass sie Ellis Verschwinden mitansehen musste. Ich konnte sie nicht vor dem Murmeln beschützen und so kann ich es auch jetzt nicht. Alles, was mir bleibt, ist der verzweifelte Versuch, es dennoch zu probieren. Wieder und wieder. In der vagen Hoffnung, dass es vielleicht doch hilfreich ist. Wenigstens ein kleines Bisschen. Nicole schaut mich an. Ihre Augen rot vom Weinen. „Hast du wirklich nichts gehört?“, haucht sie. Mein Herz zieht sich zusammen. Ich schüttel den Kopf. Ein kleines bisschen nur. Nicole presst ihre Lippen aufeinander. Dann schlägt sie ihren Blick nieder und nickt. „Er hat gesagt, dass ich zurück kommen soll.“, erzählt sie heiser. „Zunächst hat mich das gefreut, weil ich dachte … ich dachte …“ Tränen steigen wieder in ihre Augen. Sie schüttelt den Kopf, als würde sie dieses Gefühl abschütteln wollen. „Ich dachte, es könnte wieder so werden wie vorher“, schließt sie dann. „Aber ich bin mit gar nicht mehr so sicher, ob das damals wirklich so gut war. Und dann … dann hat er meine Hand genommen.“ Sie hebt ihre Hand, die sie gerade noch schützend an sich gepresst hatte. Sie schaut sie an. Befremdlich. Als wäre das gar nicht ihre Hand. Als wäre das alles gar nicht real. Aber … wer weiß das schon? Vermutlich ist das auch alles gar nicht real. „Ich habe seine Berührung gespürt“, erzählt Nicole weiter. Starrt weiter auf ihre Hand. „Es hat sich schrecklich angefühlt. Als würde ich in Säure fassen.“ Sie schaut mich an. Ihr Blick ist völlig entrückt. Ganz weit fort. Die Tränen sind fort. Alles ist fort. Nicht ein Gefühl ist mehr in ihrem Gesicht zu erkennen. „Und dann hat er gesagt, dass er dafür sorgen wird, dass ich ihn niemals wieder verlassen werde … und es klang wie eine Drohung.“

Nicole und ich verbringen die nächste Zeit damit, zu lauschen. Wann immer die Luft verdächtige Geräusche mit sich trägt. Türen, die sich öffnen. Schritte. Murmeln. Worte. So finden wir heraus, dass wir im Krankenhaus liegen. Im Koma. Zumindest nehmen wir das an. Denn keine der Stimmen hat es wirklich ausgesprochen. Aber die Schnippsel an Eindrücken sprechen dafür. Vermutlich liegen wir sogar im selben Zimmer. Denn wir hören die Türen, die Schritte und die lauten Stimmen beide zeitgleich. Manchmal bekommt einer von uns Besuch. Meistens ist es Nicole, deren Eltern an ihrem Bett stehen. Dann höre ich zumeist nicht mehr als ein Murmeln. Außer, wenn ihr Vater da ist. Der senkt seine Stimme nicht und ich verstehe jedes Wort. Wenn ich Besuch bekomme, dann hört sie nicht mehr als ein Murmeln. Aber das kommt nicht wirklich oft vor. Nach den Besuchen schweigen wir immer betreten. Wir sind hier. In diesem grausamen Scherz einer Koma-Traumwelt. Unfähig, uns mitzuteilen. Unfähig, zu leben. Und wir warten auf den Moment, da sie auch bei uns die Geräte ausschalten, die uns noch am Leben halten. So, wie sie es bei Elli getan haben. Und dann … werden wir verschwinden.

Wir sind uns näher gekommen, über diese Zeit. Nicht nur körperlich. Uns verbindet eine Erfahrung, die kein anderer auf der Welt nachvollziehen kann. Und während ich sie bedingungslos liebe, gelingt es auch Nicole, ihr Herz nach und nach für mich zu öffnen. Irgendwann kommen auch mehr und mehr Erinnerungen zurück. So erinnert sich Nicole daran, wie sie heraus gefunden hatte, das mein Bruder sie betrügt. Obwohl sie ein Paar waren. Obwohl sie verlobt waren. Er vögelte sich durch die Gegend. Und als Nicole ihn damit konfrontieren wollte, habe er nur gelacht. Gelacht und mit den Schultern gezuckt. „Was willst du tun?“, habe er gefragt. Und da sie keinen Ausweg sah, hatte sie versucht sich umzubringen. „Damals war ich so dumm …“, erklärt sie. „Ich hatte geglaubt, dass er alles ist, was ich im Leben brauche. Und zu wissen, dass ich für ihn nur Eine von Vielen bin, brach mir das Herz. Ich glaubte, ich könnte nicht ohne ihn sein. Oh, wie sehr ich das bereuehe!“

Die Türe öffnet sich. Schritte. Nicole und ich drücken uns aneinander. Ahnungslos, was nun wieder geschehen wird. Und doch unfähig, diese einzige Verbindung nach Außen zu ignorieren. „Ah … Brüderchen“, hallt Adrians Stimme durch den Raum. Nicole und ich schauen uns fassungslos an. Er ist wegen mir hier!

Ein Stuhl wird quietschend über den Boden gezogen. Rascheln. Ich höre seine tiefe Stimme, als er leise zu mir spricht. Nicole schüttet den Kopf. Sie hört ihn nicht. Ich aber … ich habe beinahe das Gefühl, seinen warmen Atem auf meiner Wange zu spüren. In mir kocht eine unerklärliche Wut hoch. Verachtung. Hass. Das erschreckt mich. Adrian ist doch mein Bruder. Und er hat nicht wirklich was Böses gemacht. Er hat nur die Liebe meines Lebens betrogen, verletzt und bedroht. Wie schimm das auch ist, so hat es nicht wirklich was mit mir zu tun. Dennoch scheint mir der flammende Hass in mir etwas tief persönliches zwischen uns zu sein. „Wie läuft es, Brüderchen?“, raunt er mir zu. „Wann schickst du sie endlich zurück?“

Ich erinnere mich! Es ist, als sprünge eine bislang gut verschlossene Kiste einfach auf. Ich erinnere mich an diesen letzten Abend! Und ich erinnere mich, warum ich im Koma liege! Es ist seine Schuld!

Er hatte mich eingeladen. Kurz, nachdem seine geliebte Verlobte verschwunden war, hatte er mich eingeladen. Zum Essen. Bei sich in der Wohnung. Er hatte gesülzt, wie sehr er sie liebte und vermisse. Alles gelogen! Zu diesem Zeitpunkt war Nicole bereits längst gefunden und ins Krankenhaus gebracht worden. In das Krankenhaus, in dem er arbeitete. Er wusste, dass sie versucht hatte, sich umzubringen. Er wusste, dass sie im Koma lag. Das war mir jetzt klar. Aber damals … damals glaubte ich ihm. Und weil er mein großer Bruder war, zu dem ich aufschaute, obwohl er mir stets vorgezogen wurde, sprach ich ihm mein Mitgefühl aus. Weil ich ihm glaubte. Weil er mein Bruder war. Und ich versprach ihm, zu helfen. Ich versprach ihm, dass ich tun würde, was immer in meiner Macht stand. Und ich versprach ihm, dass ich seine Verlobte finden und zu ihm zurückholen würde. Egal, von wo. Ich wollte alles für ihn tun. Für meinen großen Bruder. Der mich brauchte. Zum ersten Mal in seinem Leben. Ich war entschlossen, ihn nicht zu enttäuschen. Er lächelte. Charmant. Süffisant. Und wenn ich mich jetzt daran erinnere, mit kalten Augen. Dann trug er den Nachtisch auf.

Nach den ersten Bissen wurde mir schwummrig. Ich blickte ihn irritiert an. Er saß mir gegenüber. Den Kopf auf die Hände gestützt. Der Nachtisch unangetastet. „Nun“, sagte er mit einem kalten Lächeln. „Das Problem ist, dass sie zwar leicht zu finden, aber schwer zurückzubringen ist“, erklärte er. Langsam stand er auf, ging auf mich zu. „Aber zum Glück gibt es Studien, dass Komapatienten miteinander kommunizieren können.“ Er zog meinen Kopf an meinen Haaren nach hinten, sodass ich ihn anschaute. Ich atmete schwer, kämpfte um jeden Moment des Bewusstseins. Er kam mir ganz nah. Ich roch den Wein auf seinem Atem. Sein Blick wirkte seltsam fremd. „Bring sie mir zurück! Sie gehört mir!“ Dann wurde es schwarz.

Ich schrecke aus der Erinnerung hoch. Nicole sieht sehr beunruhigt aus. Ich spüre die Wut in mir brennen. Dann lächel ich. „Lass mich mal was ausprobieren …“, sage ich. Dann schaue ich konzentriert auf meine Hand. Ich bewege ganz bewusst und angestrengt meine Finger, ziehe vier davon zur Innenfläche meiner Hand. Den Mittelfinger aber halte ich gerade. Ich spüre, dass mein Körper draußen dieser Bewegung folgt. Plötzlich knallt der Stuhl. Nicole zuckt zusammen vor schreck. Das „Du verdammtes Arschloch!“ das mein Bruder schreit, kann auch sie hören. Ich kichere. Dann aber raunt er mir wütend zu: „Das wirst du noch bereuen!“

„Was war das?!“, fragt Nicole entsetzt und ich halte meinen ausgestreckten Mittelfinger hoch. „Scheinbar hat mein echter Körper das auch ganz gut hin bekommen“, kichere ich. Als ich ihren befremdlichen Blick sehe seufzte ich. Dann erzähle ich ihr alles. Ich erzähle ihr, wie mein Bruder mich mit seinem ärztlichen Wissen ins künstliche Koma versetzt hat. Das ich so hier her kam. Und dass ich geschickt bin, um sie zu ihm zurück zu holen. „Aber woher konnte er wissen, dass wir uns treffen?“, fragt Nicole irritiert. Ich zucke mit den Schultern. Dann aber erinnere ich mich an etwas. „Da war eine Geschichte …“, beginne ich zögerlich. Und dann ist alles wieder klar. Ich erinnere mich an die Geschichte, die unser Großvater uns erzählt hatte. „Als wir noch sehr jung waren fiel unsere Großmutter ins Koma“, erkläre ich Nicole. „Adrian liebte sie abgöttisch und war besorgt, dass sie einsam war. Unser Großvater erzählte ihm dann immer, dass sie noch alles hören würde und mitbekäme. Und dass sie ja auch abends nicht einsam sei, weil der andere Komapatient, der mit ihr das Zimmer teilte, ihr in ihren Träumen Gesellschaft leistete. Als sie dann wieder aufwachte, bestätigte sie seine Geschichte. Aber ich weiß nicht, ob das wirklich gestimmt hat. Bei Adrian scheint es allerdings einen ziemlichen Eindruck hinterlassen zu haben, denn kurz darauf nahm er sich vor, Arzt zu werden.“ Nicole nickt. „Das hat er ja dann auch geschafft.“, bestätigt sie. Dann überlegt sie kurz und fragt: „Ist das der Grund, warum er sich auf Komabehandlung spezialisiert hat?“ Ich zucke mit den Schultern. „So im Nachhinein betrachtet macht das irgendwie schon Sinn. Er hat auch die Gehirnströme vieler Komapatienten gemessen und sie nach dem eventuellen Aufwachen befragt. Zumindest haben das meine Eltern in einigen der dutzenden Lobreden auf ihn erwähnt.“ Nicole schippst. „Ja! Ich erinnere mich wie sehr er sich gefreut hatte, dass die Messungen zweiter Patienten eine Angleichung der Hirnströme zeigte. Aber das bewies nicht wirklich was.“ Plötzlich zögert Nicole. Sie schaut mich an. Tiefe Traurigkeit in ihrem Blick. Mitgefühl. „Dass ihm das gereicht hat, um auf gut Glück seinen eigenen Bruder ins Koma zu versetzen … eine Geschichte und ein paar Messungen …“ Wir schweigen betreten.

Ich bin in Gedanken. Sie ist in Gedanken. Nach einer Weile greift Nicole meine Hand. „Und jetzt?“, fragt sie. Ich zögere. Ich erinnere mich an die Drohung meines Bruders. „Das wirst du noch bereuen“ … Ich zwinge mich zum Lächeln. „Genießen wir es, so lange es geht“, antworte ich schließlich. Nicole drückt sich an mich. „Wie lange das wohl noch sein wird …“, murmelt sie dann. Ich schließe meine Augen. Ich atme ihren Duft ein. Und seufzte.

Irgendwann ziehen Nicole und ich uns ins Schlafzimmer zurück, legen uns auf das große, gusseiserne Bett. Ich lege mich hinter sie, drücke mich zärtlich an ihren Rücken. Ich spüre ihren warmen, weichen Körper ganz nah an meinem. Ihr süßer Duft streichelt meine Sinne. Ich drücke sie noch fester an mich heran. Ihr Atem geht langsam und gleichmäßig. Sie bewegt sich nicht. Und ihr Gesicht ist mir abgewandt. Ich kann nichts darin lesen. „Willst du hier bleiben?“, höre ich sie schließlich murmeln. „Hm?“, erwidere ich abgelenkt. Ich höre sie traurig lächeln. „Ob du hier bleiben willst? Wo auch immer das ist.“ Eine leise Sorge steigt in mir auf. Ich drücke es weg. Zwinge mich zum Lächeln. Ich zuckte mit den Schultern. „Es ist nicht so schlimm. Wir haben unsere Ruhe, einander und keinerlei Geldsorgen“ Ich höre ein leichtes Kichern. Oh, wie gerne hätte ich es auch gesehen. Wenn sie so kichert, werfen ihre Augen kleine Lachfältchen und lassen sie nur noch schöner aussehen. Doch sie hört auf zu kichern. „Sie werden uns nicht ewig am Leben erhalten“, meinte sie schließlich. „Irgendwann werden sie uns aufgeben und uns gehen lassen. Und was dann passiert, haben wir bei Elli gesehen.“ Sie schniefte bei dem Gedanken an Elli. Dann drehte sie sich zu mir um. Ihre ungeweinten Tränen glitzerten in ihren haselnussbraunen Augen und ließen sie noch schöner wirken. „Sie werden uns aufgeben und wir verschwinden“, wiederholte sie deutlich. „Ja“, antwortete ich und strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht. „Willst du das?“, harke sie nach und ich zögere. Erneut kämpfe ich die Ahnung nieder, dass es bei mir bald so sein könnte. Adrian würde mich bald verschwinden lassen. Ich zwinge mich erneut zu einem Lächeln. „Was willst du denn?“, vermeide ich die Antwort. Ihr skeptischer Blick verrät, dass sie es durchschaut hat. Aber sie kuschelt sich trotzdem ganz fest an mich. „Ich will mit dir Leben. Richtig leben.“ Ich spüre eine tiefe Sehnsucht in mir aufsteigen. Der Gedanke, mit ihr zu leben, macht mich glücklich und ängstlich zugleich. Mit ihr leben. Verreisen. Den Alltag begehen. Eine Familie gründen. Und alt werden. Mein Herz schreit mit zwei Stimmen. Die eine brüllt ja! Immer wieder „ja!“ und will nichts mehr als das. Aber die andere Stimme tönt mit einem tiefen, unheilvollen Grollen, dass das nicht wahr werden kann. Ich streiche ihr durch das weiche Haar. Ich lächele. „Und mein Bruder?“, frage ich. Nicole schaut mich irritiert an. Dann lächelt sie. Als sei ihr gerade erst eingefallen, dass es meinen Bruder, ihren Exfreund, überhaupt gibt. „Der kann uns nichts tun. Nicht mehr.“ Ich küsse sie. Ihre Lippen sind so sanft. So süß. Und sie wecken in mir die Sehnsucht nach mehr. Sie löst sich aus unserem Kuss und sieht mich ernst an. Sie lächelt. Nun ist sie es, die mir durch das Haar streicht und mich ansieht, als würde sie sich jeden Zentimeter meines Gesichtes einprägen. „Ich will mit dir leben“, flüstert sie. „Lass uns gemeinsam aufwachen.“

Eine Träne rollt über meine Wange. Ich nicke. „Ja“, hauche ich mit erstickter Stimme. „Lass uns gemeinsam aufwachen.“ Ein Strahlen erscheint auf Nicoles Gesicht. Sie lächelt und doch weint sie. „Machen wir es jetzt gleich?“, fragt sie. „Wenn du das willst“, antworte ich. Mein Herz sticht. Ich lächel. Sie lächelt. Sie nickt. Dann schließt sie die Augen, konzentriert sich. Ich streichel über ihre Wange, spüre sie. Sie beginnt zu strahlen, zu schimmern. Dann löst sie sich mehr und mehr auf. Ist nur noch ein strahlender Schemen. „Ich liebe dich!“, platzt es aus mir heraus. Sie reißt ihre Augen auf, Lächelt, öffnet den Mund und scheint etwas zu sagen. Doch sie verschwindet, bevor ich es hören kann. Löst sich auf. Einfach so. Und ich bin allein.

Ich spüre, wie eine Welle der Traurigkeit über mich schwappt. Zweifel schleichen sich an. Hier konnte ich sie für mich gewinnen. Aber ob sie mich auch dort haben will? Im Leben. Und werde ich sie da endlich beschützen können? Ich seufze schwer. „Es gibt nur einen Weg, das heraus zu finden“, sage ich. Meine Stimme hallt klar durch den seltsam leeren Raum. Sie klingt ungewohnt. Dann schließe ich die Augen. Ich spüre in mich hinein. Versuche, all die verschiedenen Gefühle, die in mir um die Vorherrschaft kämpfen, zurück zu drängen. Die Angst. Die Sehnsucht. Trauer, Liebe, Aufregung und Sorge. Als endlich eine gewisse Ruhe in mir eingekehrt ist, streckt sich mein Bewusstsein nach meinem Körper. Ich weiß, dass ich ihn erreichen kann, ich habe das schon einmal geschafft. Aber dieses Mal muss ich mich so mit ihm verbinden, dass ich in ihn zurück kehren kann. Plötzlich ist da was! Ich spüre ihn, ich spüre meinen Körper. Leer. Als würde er auf mich warten. Ich blicke mich noch einmal um. Das Zimmer erscheint mir zugleich so unglaublich fremd und vertraut. Und dann lasse ich los.

Grelles Licht umfängt mich. Ich habe keine Orientierung mehr. Wo bin ich? Bin ich wirklich zurück gekehrt in meinen Körper? Oder bin ich versehentlich gestorben? Das grelle Licht beißt in meinen Augen. Ich bin träge, komme mir vor wie gelähmt. Doch nach und nach verklingt das Licht. Viel zu langsam wird es schwächer. Und dann schält sich ein Zimmer aus dem Weiß. Ein weißes, steriles Zimmer. Ich sehe Schläuche. Ich höre ein gleichmäßiges Pipen. Ein Pumpen. Ein Rascheln. Ich schaue mich um, bewege vorsichtig meinen Kopf. Es fühlt sich an, als hätte ich viel zu viel getrunken. Alles ist schwummrig. Aber als ich neben mich sehe, entdecke ich den Schemen eines anderen Bettes. Ich strenge mich an, es deutlicher zu sehen. Und nach und nach erfüllen meine Augen ihren Dienst. Ich sehe das Bett. Ich sehe die Geräte. Ich sehe die Schläuche. Ich sehe Nicole. Sie ist bleich. Abgemagerter als in der anderen Welt. Ihre karamellbraunen Haare sind ungewaschen. Aber ihre haselnussbraunen Augen funkeln. Und ihr Lächeln erstrahlt unter den Tränen des Glücks. „David“, flüstert sie. Ich erahne mehr, was sie sagt, als dass ich es wirklich hören kann. Und doch klingt ihre so vertraute Stimme in meinen Ohren. Ich lächel. „David“, wiederholt sie. „Ich liebe dich auch!“

Für diesen Augenblick bin ich glücklich. So unbeschreiblich glücklich! Wir sind hier! Wir sind lebendig! Und wir lieben einander! Alles andere wird sich geben. Muss sich geben. Zusammen schaffen wir alles! Meine Finger bewegen sich. Ich habe noch keine wirkliche Kontrolle, aber die Sehnsucht, Nicole zu berühren, feuert mich an.

Doch dann verändert sich etwas. Das Strahlen in Nicoles Augen erlischt. Ihr Lächeln verschwindet. Und all die Wärme in ihrem Gesicht verwandelt sich in Irritation. Ich kann sehen, wie sie vergisst. Wie sie vergisst, was geschehen ist. Wie sie mich vergisst. Wie sie uns vergisst. Mir ist, als würde ich jede ihrer Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit in ihren Augen kurz aufschimmern sehen, bevor sie auf ewig verlischt. Ich will toben, ich will schreien, ich will zu ihr! Ich will sie an all das erinnern, was geschehen ist! Aber mein Körper ist wie taub. Und meine Stimme gehorcht mir noch nicht. Ich bin gefangen! Gefangen in meinem eigenen Köper! Und ich kann nichts tun, als zu zusehen, wie ich aus ihren Erinnerungen verschwinde. Immer mehr. Bis das letzte bisschen fort ist. Als ihr Lächeln erneut auf ihrem Gesicht erscheint, hat es alle Wärme verloren. Es ist ein unsicheres Lächeln. Höflich. Und dann dreht sie ihren Kopf von mir weg. Und ich starre sie nur an. Fassungslos.

In die schreiende Stille meiner Gedanken mischt sich plötzlich etwas Neues. Ich spüre, wie die Dunkelheit ihre dürren, kalten Finger nach mir ausstreckt. Stück für Stück umfasst sie meine Erinnerungen und zieht sie langsam davon. Ich spüre, wie sie schwinden. Panisch versuche ich mich dagegen zu wehren. Ich versuche einen schützenden Käfig um diese kostbaren Erinnerungen zu legen. Ich darf nicht vergessen!! Ich muss mich erinnern! Und dann muss ich Nicole dabei helfen, sich zu erinnern! Wenn nur einer von uns das behält, was wir geteilt haben, dann ist es noch nicht vorbei! Doch unaufhaltsam greift sich die Dunkelheit mit ihren dürren Fingern eine Erinnerung nach der anderen. Erst vergesse ich Kleinigkeiten. Dann Situationen. Dann verschwindet Elli. Dann der Verrat meines Bruders. Nicole! Ich klammere mich an diese eine Erinnerung, an diesen Namen, an dieses Gefühl. An diese unaussprechliche, tiefe Liebe zu ihr. Diese erwiderte Liebe. Aber die dürren Finger der Dunkelheit umfassen auch sie. Umfassen meine Nicole. Meine Nicole! Und langsam und unerbittlich ziehen sie auch Nicole von mir fort! Vollkommen gleich, wie sehr ich mich wehre! Sie nehmen sie mir weg! Und dann … ist da nur noch eine kühle Leere. Nicht mehr. Und gebeutelt von Anstrengungen, an die ich mich gar nicht mehr so recht erinnern kann, schlafe ich erschöpft ein.

Irgendwann wache ich auf. Leute kommen in das Zimmer. Das hat mich wohl geweckt. Ein älterer Mann mit einer tiefen, lauten, durchdringenden Stimme. Zwei Frauen. Die Ältere weint. Die Jüngere packt irgendwelche Sachen aus dem Schrank und dem Nachtkasten des anderen Krankenhausbettes. In diesem andere Bett liegt eine junge Frau. Durch das Gewusel hindurch treffen sich unsere Blicke. Sie lächelt mich entschuldigend an. Zuckt mit den Schultern. Ich nicke ihr zu. Lächel sie an. Sie sieht nett aus. Dann drehe ich mich wieder um und starre an die Decke. Ich höre die ältere Frau jammern. Sie sagt immerzu „Nicole“. Ich drehe mich verstohlen um. Ob das der Name dieser jungen Frau ist? Naja. Geht mich ja nichts an. Da schwingt die Türe auf. Ein Arzt kommt rein. Ich brauche einen Moment, um ihn zu erkennen. Es ist Adrian. Mein Bruder. Ich spüre einen Stich in meiner Brust. Aber … warum? Liegt es daran, dass er mich gar nicht beachtet und gleich zu der jungen Frau geht? Vermutlich. Sie reden miteinander. Ich blende es aus, höre nicht hin. Stattdessen lehne ich mich in meinem unbequemen Krankenhausbett zurück. Ich schließe die Augen, versuche das bedrückende Gefühl eines vergessenen Traumes zu greifen. Aber … da ist nichts mehr. Dennoch … irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich niemals hätte aufwachen dürfen …

Es lärmt. Ich schrecke auf und blicke zu dem anderen Bett. Die junge Frau wird mitsamt des Bettes aus dem Zimmer geschoben. Unsere Blicke treffen sich ein weiteres Mal. Sie nickt mir förmlich zu. Ich erwidere den Gruß. „Tschüss“, sage ich. Es ist wohl eher ein unverständliches Murmeln. Ihre Augen flimmern. Es sind schöne Augen. Tief Braun. Sie dreht sich nochmal zu mir um, aber da sie immer weiter geschoben wird, verliert sich der Moment. Und sie verschwindet aus meinem Leben. Mein Bruder begleitet sie. Als er die Tür schließt, dreht er sich noch einmal um. Er sieht mich an. Sein Blick ist eiskalt. Dann fällt die Türe ins Schloss. Mit einem Mal ist es so ruhig in diesem kleinen Zimmer. Nichts ist mehr da. Außer das unbestimmte Gefühl, dass ich irgendwas vergessen habe. Ob es wohl etwas Wichtiges war?

„Der Willmuss“

Im Rahmen meiner frühen therapeutischen Tätigkeit fiel mir auf, wie häufig Menschen sich selbst mit der Aussage „Ich muss …“ unter Druck setzen. In solchen Situationen macht es hier Sinn, die Absolutheit dieser Formulierungen zu hinterfragen. Und die Formulierung teilweise mit „Ich will“ oder „Ich möchte“ zu ersetzen. Allerdings stieß ich – sowohl im Außen als auch bei mir – auf Dinge, die einem intensiven inneren Drang entspringen. Eine Art Müssen, die intern motiviert ist. Um diese Form von dem belastenden „Ich muss“ zu unterscheiden, begann ich manchmal mit einem Augenzwinkern zu sagen: „Der Willmuss ist das einzige Müssen, das hier Raum hat.“ Dadurch entwickelte sich bei mir nach und nach „Der Willmuss“. Eine kleine innere Instanz aus der Familie der Impulse, die das Wollen und das Müssen auf potentialsträchtigste Weise miteinander vereint. Ein Wollen, das so intensiv und definierend geworden ist, dass es zur Notwendigkeit geworden ist. Aber nicht als Belastung, sondern als Motivation.

So entstand der Willmuss. Aus dem Willmuss entwickelte sich ein ganzer Komplex aus „Impulsen“, die schließlich in einer kleinen Geschichte Ausdruck fand. Diese Geschichte wartet jetzt in meiner Schublade auf den Moment, dar sie endlich zu einem kleinen, illustrierten „Therapiebüchlein“ wird. Nach dem Vorbild von „Der Seelenvogel“ oder „Mein schwarzer Hund„.

Und da ich fürchte, dass die Geschichte noch ein bisschen warten muss, möchte ich die „Impulse“ in diesem Rahmen schon mal mit ihren aktuellen Illustrationen ein bisschen vorstellen:

Der Brauche

„Er schlüpfte aus dem ersten Schrei des Säuglings, geboren aus dem drängenden Wunsch zu leben. Mit tränenfeuchten, großen Knopfaugen blickt er aus seinem pummligen Körper hinaus in die Welt. Seine Pauspacken und sein bunten, lockiges Fell lassen ihn gar niedlich und bedürftig erscheinen, sodass man ihm gerne etwas Gutes tut. Öffnet er jedoch seinen kleinen Schmollmund, so entschlüpft ihm ein Brüllen. Ein Brüllen, dass drängend und ungeduldig ist und direkt. Und nährt sich ihm das Begehrte, dann greift sein dreigliedriger Schweif danach
und lässt es nimmer mehr gehen.“ 

Der Will

Der Wollen erwuchs aus der ersten Begierde. Die stechenden Augen über seiner schmalen Schnauze brennen vor Verlangen und die scharfen Krallen seines schlanken, sechsfüßigen Leibes sind bereit für den Kampf. Sein spitzer Schrei geht durch Mark und Bein. Er klingt fordernd und ist gespeist con der unbändigen Sorge, zu kurz zu kommen. Dieser Schrei erinnert an einen Angriff. Dieser Impuls ist stets bereit, seine hohen Ziele zu erreichen.

Der Sollte

Auch gibt es den Sollte. Sein träger, dicker Körper behindert jede Bewegung und seine müden Augen blicken traurig in die Welt. Sein Rufen klingt stets wie ein erstickter Seufzer und wann immer er ihn tut, scheinen die harten Hornplatten auf seinem Rücken schwerer zu werden. Geboren ward er durch die äußeren Moralien, die seine vier hängenden Ohren gar gut entfangen und halten.

Der Kann

„Die langen, sensiblen Schnurrhaare des Kann sind gar trefflich, um seine Nische zu finden. Und die kräftigen Beine seines muskulösen Körpers tragen ihn überall hin. Geboren ward dieser Impuls aus dem ersten Trotz. Er ist in jeder seiner Bewegungen stolz und kontrolliert. Er ist der Bruder des Wollen und gemeinsam können sie die Feuer des Trotzes entzünden und die Welt neu erschaffen. Doch zu welchem Preis?“

Der Wünschte

„Der Wunsch ist ein sanfter, gar unscheinbarer Impuls. Seine Augen sind zumeist geschlossen und seine Schnurrhaare vibrieren zu einer unhörbaren Melodie. Er ist geboren aus der reinen Demut und ist stets zurückhaltend, brav und vertrauensvoll. Er kuschelt sich gerne hinein in sein weiches, flauschiges Fell aus weiß-silbriger Wolle. Seine kurzen Beine tragen ihn nicht. Und will er sich bewegen, so öffnet er seine tiefen, traurigen Augen. Aus ihnen spricht eine so tiefe und rührende Sehnsucht, dass er getragen wird wo immer er hin will.“

Der Muss

Der Muss entstand aus den ersten Regeln und Pflichten des Menschen. Regeln, die vom Außen herangereicht wurden an des Herzens Landschaft. Seine langen, schwarzen Haare fließen wie Teer über den Boden und machen jede Bewegung schwer. Seine schlaffen Ohren hängen schlapp hinunter und hören doch jedes auferlegte Wort. Dieser Impuls ist gar kräftig und trotz seines schweren Fells vermag er sich unerbittlich voran zu quälen. Was bleibt ihm auch? Denn seine vom filzigen Fell verborgenen Beine haben keine Knie und so kann er sich keine Pause gönnen. Zugleich ist dieser Impuls stets am Plappern und am Murmeln und ist nicht einen Augenblick lang still. Es ist ermüdend ihm zu lauschen. Denn er ist der Lauteste von allen und sein gemurmelter Schrei ist treibend und drängend.

Der Darf

„Der Darf ist ein gar misstrauischer und scheuer Impuls. Seine großen, runden Ohren und die scharfen Knopfaugen eigenen gar trefflich, um Dinge von Außen wahr zu nehmen. Seine zierlichen Pfötchen sind hervorragend dafür, sich vorsichtig voran zu tasten. Und jegliche Bewegung, die er tut, tut er ausnahmslos mit der Erlaubnis anderer.“

Der Willmuss

Der Willmuss ist ein gar possierliches Tierchen. Sein warmes Fell ist so weich wie Wattewolken und trägt auf dem Rücken ein lächelndes Gesicht als Muster. Das Fell ist dicht genug, um den Willmuss zu schützen und weich genug, dass man ihm etwas Gutes tun möchte. Sein rundlicher Kopf beherbergt neugierige Knopfaugen, eine Stupsnase und einen Mund, der ein ansteckendes Lächeln zu tragen scheint. Sein schnurrendes Maunzen ist nicht fordernd noch drängend, aber fest entschlossen in sich. Seine runden Ohren hören nur Gutes und wandeln jedes böses Wort in verdecktes Wohlwollen. Sein kuschliger Körper verbirgt eine immense Kraft und seine tappsigen Pranken verfügen über eine erstaunliche Anmut. Geboren ward dieser Impuls aus der Reinheit des Seins. Aus dem Gefühl von Richtigkeit und Entwicklung. Und alles an diesem Impuls spricht von einem untrüglichen Vertrauen in das Gute in der Welt.


Und hier das vollständige Manuskript über den Willmuss und die Impulse:

Der Willmuss

Tief in uns Menschen, auf den geheimen Landschaften unserer Herzen, leben die Impulse. Diese Impulse prägen unsere Denkmuster und Motivationen. Und formen dadurch unser Leben.

Einer dieser Impulse ist der Brauche. Er schlüpfte aus dem ersten Schrei des Säuglings, geboren aus dem drängenden Wunsch zu leben. Mit tränenfeuchten, großen Knopfaugen blickt er aus seinem pummligen Körper hinaus in die Welt. Seine Pauspacken und sein bunten, lockiges Fell lassen ihn gar niedlich und bedürftig erscheinen, sodass man ihm gerne etwas Gutes tut. Öffnet er jedoch seinen kleinen Schmollmund, so entschlüpft ihm ein Brüllen. Ein Brüllen, dass drängend und ungeduldig ist und direkt. Und nährt sich ihm das Begehrte, dann greift sein dreigliedriger Schweif danach und lässt es nimmer mehr gehen.

Der Wollen erwuchs aus der ersten Begierde. Die stechenden Augen über seiner schmalen Schnauze brennen vor Verlangen und die scharfen Krallen seines schlanken, sechsfüßigen Leibes sind bereit für den Kampf. Sein spitzer Schrei geht durch Mark und Bein. Er klingt fordernd und ist gespeist von der unbändigen Sorge, zu kurz zu kommen. Dieser Schrei erinnert an einen Angriff. Dieser Impuls ist stets bereit, seine hohen Ziele zu erreichen.

Auch gibt es den Sollte. Sein träger, dicker Körper behindert jede Bewegung und seine müden Augen blicken traurig in die Welt. Sein Rufen klingt stets wie ein erstickter Seufzer und wann immer er ihn tut, scheinen die harten Hornplatten auf seinem Rücken schwerer zu werden. Geboren ward er durch die äußeren Moralien, die seine vier hängenden Ohren gar gut entfangen und halten.

Die langen, sensiblen Schnurrhaare des Kann sind gar trefflich, um seine Nische zu finden. Und die kräftigen Beine seines muskulösen Körpers tragen ihn überall hin. Geboren ward dieser Impuls aus dem ersten Trotz. Er ist in jeder seiner Bewegungen stolz und kontrolliert. Er ist der Bruder des Wollen und gemeinsam können sie die Feuer des Trotzes entzünden und die Welt neu erschaffen. Doch zu welchem Preis?

Der Wunsch ist ein sanfter, gar unscheinbarer Impuls. Seine Augen sind zumeist geschlossen und seine Schnurrhaare vibrieren zu einer unhörbaren Melodie. Er ist geboren aus der reinen Demut und ist stets zurückhaltend, brav und vertrauensvoll. Er kuschelt sich gerne hinein in sein weiches, flauschiges Fell aus weiß-silbriger Wolle. Seine kurzen Beine tragen ihn nicht. Und will er sich bewegen, so öffnet er seine tiefen, traurigen Augen. Aus ihnen spricht eine so tiefe und rührende Sehnsucht, dass er getragen wird wo immer er hin will.

Der Muss entstand aus den ersten Regeln und Pflichten des Menschen. Regeln, die vom Außen herangereicht wurden an des Herzens Landschaft. Seine langen, schwarzen Haare fließen wie Teer über den Boden und machen jede Bewegung schwer. Seine schlaffen Ohren hängen schlapp hinunter und hören doch jedes auferlegte Wort. Dieser Impuls ist gar kräftig und trotz seines schweren Fells vermag er sich unerbittlich voran zu quälen. Was bleibt ihm auch? Denn seine vom filzigen Fell verborgenen Beine haben keine Knie und so kann er sich keine Pause gönnen. Zugleich ist dieser Impuls stets am Plappern und am Murmeln und ist nicht einen Augenblick lang still. Es ist ermüdend ihm zu lauschen. Denn er ist der Lauteste von allen und sein gemurmelter Schrei ist treibend und drängend.

Der Darf ist ein gar misstrauischer und scheuer Impuls. Seine großen, runden Ohren und die scharfen Knopfaugen eigenen gar trefflich, um Dinge von Außen wahr zu nehmen. Seine zierlichen Pfötchen sind hervorragend dafür, sich vorsichtig voran zu tasten. Und jegliche Bewegung, die er tut, tut er ausnahmslos mit der Erlaubnis anderer.

Das sind unsere Impulse. Geboren aus Mangel und Angst. Sie haben ihre Stärken, die uns durch das Leben tragen. Und sie haben ihre Schwächen, die uns bedrücken und binden. Der letzte Impuls, von dem ich erzählen werde, ist der Willmuss.

Der Willmuss ist ein gar possierliches Tierchen. Sein warmes Fell ist so weich wie Wattewolken und trägt auf dem Rücken ein lächelndes Gesicht als Muster. Das Fell ist dicht genug, um den Willmuss zu schützen und weich genug, dass man ihm etwas Gutes tun möchte. Sein rundlicher Kopf beherbergt neugierige Knopfaugen, eine Stupsnase und einen Mund, der ein ansteckendes Lächeln zu tragen scheint. Sein schnurrendes Maunzen ist nicht fordernd noch drängend, aber fest entschlossen in sich. Seine runden Ohren hören nur Gutes und wandeln jedes böses Wort in verdecktes Wohlwollen. Sein kuschliger Körper verbirgt eine immense Kraft und seine tappsigen Pranken verfügen über eine erstaunliche Anmut. Geboren ward dieser Impuls aus der Reinheit des Seins. Aus dem Gefühl von Richtigkeit und Entwicklung. Und alles an diesem Impuls spricht von einem untrüglichen Vertrauen in das Gute in der Welt.

Der Willmuss ist nicht laut doch unüberhörbar. Und wenn er spricht, werden die anderen Impulse still. Folgst du dem Willmuss und hörst ihm gut zu, so wird er dich tragen, wohin du gehörst. Denn er ist reiner als der Will und selbstbestimmter als der Muss. Er setzt Ziele ohne Mangel, Angst und Wut. Und er gibt dir, was immer du brauchst, um glücklich zu sein. Wann immer du also den Willmuss hörst, lausche ihm wohl. Und lass dich führen, wo dein Glück dich trifft.

27.09.2022: Niederzwehrener Märchentage

Ich wurde angefragt, Teil der diesjährigen 11. niederzwehrener Märchentage zu sein und habe gerne zugesagt. Daher werde ich am 27.09. einmal um 9:00 und einmal um 10:00 in der Aula der Johann-Amos-Comenius-Schule in Kassel für Kindergartenkinder aus meinen Büchern vorlesen. Meine aktuelle Wahl für die Lesungen ist „Die kleine Tänzerin„. Eine Geschichte über unerwartete Freundschaften, die für die Altersgruppe gut geeignet sind, aber auch für ältere Zuhörer einen Zauber bergen können. Daher freue ich mich über jeden, der kommt, um im stimmungsvollen Ambiente der Niederzwehrener Märchentage für eine Weile zu lauschen.

Die Lokation war schnell gefunden und die Schule schien gut zu sein.
Herr Bühnemann, der Leiter der dortigen "Schul- und Bereichsbibliothek"
begrüßte mich, führte mich herum und zeigte mir den Ort der Lesung. Diese
sollte in der Schulaula statt finden. Ein Stuhlkreis war schon aufgebaut
und ich konnte mich problemlos einrichten.

Da diese Lesung mit Kindergartenkindern statt finden würde, hatte ich im
Vorhinein etwas Sorge gehabt, dass der doch nicht allzu kurze Text meines
Märchens die Aufmerksamkeitsspanne überfordert. Daher hatte ich mir eine
Auswahl an kleinen Objekten mitgebracht: Eine Spieluhr, eine handvoll
Holzfiguren, eine Puppe, eine Figurine, einen Teddy, ein Stoffpferd und
ein Spielzeugflugzeug. Wer das Märchen schon kennt bemerkt vielleicht,
dass all diese Dinge in der Geschichte vorkommen und der kleinen Tänzerin
auf ihrem Weg begegnen. Sie sollten den Kindern einen realvisuellen Anreiz
bilden, um der Geschichte besser folgen zu können.

Ich war aufgeregt, wie das sich wohl gestalten würde. Natürlich hatte ich
auch schon jüngere Leute im Auditorum gehabt, aber noch nie ein nur derart
junges Publikum. Natürlich habe ich auch Kindermärchen im Sortiment (hier
nenne ich häufig "Die schlaflose Prinzessin", "Der zauberhafte Silbersee" und
"Das zerbrochene Herz") aber letztlich sind meine Märchen eher für Erwachsene.
Formell war "Die kleine Tänzerin" für ab fünf Jahre geeignet. Aber es ist
extrem schwer, genaue Altersempfehlungen zu geben.

Trotz all dieser Überlegungen und Unsicherheiten klappten beide Lesungen
hervorragend! Zuerst kam die "Kita Matthäuskirche" mit einer kleinen Gruppe
mit etwa zwölf Kindern. Die Kinder waren aufmerksam und machten gut mit.
Natürlich flocht ich in den Geschichtsfluss immer mal wieder Fragen ein,
damit die Kinder etwas zurück geholt wurden. So fragte ich sie, ob sie die
jeweiligen Figuren, von denen ich gerade erzählt hatte, sehen würden.
Und stets zeigten sie auf den Teppich vor mir. Genau dafür hatte ich die
Objekte ja mitgebracht. Als die Geschichte zuende war, lud ich die Kinder
zu mir ein, damit sie sich mal die Figuren, von denen sie ja gerade gehört
hatten, anzuschauen. Das schien sehr gut anzukommen.

Es folgte eine Gruppe der "Kita Niederzwehren". Der Ablauf war formell der
gleiche: Parallel zum Lesen lud ich die Kinder immer mal wieder zur
Interaktion ein. Wie auch schon bei der ersten Gruppe fragte ich - als "das 
große Wesen" den Auftritt hatte, was das wohl sein könnte. Und als die Kinder
nicht drauf kamen ließ ich sie einen Finger vor sich strecken, dann zu sich
drehen und schließlich auf ihre eigene Nase zeigen. Dann erklärte ich, dass
sie selbst das große Wesen seien. Jeder von ihnen. Wie auch schon bei der
ersten Gruppe war auch die zweite Gruppe die gesamte Geschichte über recht
aufmerksam und dabei. Natürlich wurden sie gegen Ende unruhiger und ein
bisschen hibbelig, aber das war vollkommen angemessen. Und auch diese Gruppe
- die knapp zwanzig Kinder zählte - durfte nach der Lesung nach vorne kommen
und mit den Gegenständen spielen.

Bei beiden Gruppen gab es beim Spielen jeweils ein Kind, dass sich nicht zu
mir nach vorne traute. Beide Male war meine unterstützende Begleitung so
aufmerksam, die Kinder auf eine eigene Art mit einzubinden. So wurde die
kleine Spieluhr zu den jeweiligen Kindern gebracht und kurz aufgezogen.
Generell fanden die Kinder es sehr schön, als die Spieluhr aufgezogen wurde.

Was ich sehr schön fand war, dass die begleitenden BetreuerInnen meinten,
dass die Kinder sehr aufmerksam und ganz dabei gewesen seien. Da ich noch
nicht so viel Erfahrung mit dieser Altersgruppe hatte und als vortragender
Künstler eher die absolut normalen Momente der Unruhe mitbekommen hatte,
tat mir diese Rückmeldung extrem gut. Denn es zeigt, dass sowohl die
Geschichte als auch meine Art des Vortragens die Kinder erreicht haben.

Letztlich hoffe ich, dass die Lesung und das Märchen den Kindern Vergnügen
gemacht hat und vielleicht sogar ein paar von ihnen noch eine Weile als eine
positive Erinnerung begleitet. Mir jedenfalls hat diese neue Erfahrung sehr
viel Freude gemacht und ich bin sehr dankbar für die Möglichkeit.

Impressionen:

Mein Outfit
Outfit meiner Begleitung

 

Schloss Berlepsch

Im Rahmen einer Initiative der „Burgen und Schlösser“ kam die Familie von Berlepsch im Februar 2021 mit der Anfrage auf mich zu, ob ich ihrem Stammsitz „Schloss Berlepsch“ ein „Haus- und Hofmärchen“ schreiben wolle.

In der Folge las ich mich in die beeindruckende Historie dieses seit mehreren Jahrhunderten im Familienbesitz befindlichen Schlosses ein. Um nicht unnötig mit den Fakten zu kollidieren, entwickelte ich ein Entstehungsmärchen der Familien von Berlepsch, das zeitlich vor den offiziellen Aufzeichnungen spielten sollte. Dadurch nahm ich den Fokus von dem Schloss selbst und legte ihn auf die Werte und die Essenz der Familiengeschichte.

Das fertige Ergebnis wurde von der Familie von Berlepsch sehr positiv aufgenommen und wird hoffentlich noch in unterschiedlicher Form weiter getragen werden.

Seit Mai 2023 gibt es auch eine gedruckte Version mit einigen schlichten Illustrationen. Sie ist bei der Autorin oder über Amazon zu erhalten.


Joachim und die Bärentochter

– die Anfänge der Familie vom Schloss Berlepsch –

Hoch über den Lindenkronen des Werratals thront ein altehrwürdiges Schloss. Es thront dort seit hunderten von Jahren als ein Denkmal für Beständigkeit und Wandel gleichermaßen. In all dieser Zeit hat es so mancherlei erlebt und so mancherlei gesehen. So horch! Wenn du ganz achtsam lauschst, so erzählen dir die alten Steine, die vom Wind gestreichelt werden, ihre Geschichte. Eine Geschichte von Sittigen und Sparren. Eine Geschichte von Geschick und Klugheit. Eine Geschichte von tapferen Müttern und ritterlichen Tugenden. Die Geschichte der Familie von Berlepsch.

Diese Geschichte, die jene alten Mauern erzählen, begann weit vor der Zeit, da die Schriftstücke Zeugnis tragen. Und sie begann gar weit entfernt von dem Schloss, das diese Legende weiterträgt. Sie begann mit einem Knaben, der auf den Namen Joachim hörte. Joachim lebte ein ruhiges und friedliches Leben, umgeben von seiner Familie, die ihn spürbar liebte. Und in diese Liebe waren Werte eingeflochten, die den Knaben sein Leben lang begleiten sollten. Joachim lernte, Mitgefühl zu haben und sich für jene einzusetzen, die schwächer waren. Er lernte, weise und gerecht zu entscheiden. Er lernte, klug und bedächtig zu handeln. Und er lernte, demütig zu sein gegenüber der Welt. Während er all dies lernte, erwuchs aus dem Knaben ein stattlicher Jüngling. Er begab sich wie bereits seine Vorväter in den Dienst des Landes und ward zu einem tapferen und redlichen Ritter. Als dieser Ritter zog er hinaus in die Welt.

Auf seiner Reise überstand Joachim gar mancherlei Abenteuer und traf so manch treuen Freund. Er lernte Dinge, die gar ungewöhnlich schienen, und sah Wunder, deren Beschreibung jegliche Worte spottete. Und stets setzte er sich dafür ein, dass er einen jeden Ort ein Stück besser verließ, als er ihn vorgefunden hatte. Dabei nutzte er die Werte und Geschicke, die seine liebende Familie ihm vermittelt hatte. Er blickte auf niemanden hinab, nicht Mensch noch Tier. Er hörte zu und nahm sich Zeit, um zu verstehen. Und er ließ die Notwendigkeit zurück, sich um seiner selbst willen zu präsentieren.

Das Abenteuer aber, dass all diese Talente am meisten forderte und sein weiteres Leben am nachhaltigsten prägte, betrug sich nicht in den Weiten der Welt, sondern in einem kleinen Dorf mit dem Namen Barlewissen.

Barlewissen lag im Südwesten der Stadt, die uns heutzutage als Göttingen bekannt ist. Und als Joachim mit seinen Gefährten in diesem Dorf ankam, war es mit Furcht und Kummer angefüllt. Die Reisenden fragten, was denn der Grund für das Leid sei, und die Bewohner berichteten, dass sich im nahen Wald Bären befänden. „Sie kommen des Nachts, plündern unsere Häuser und reißen unsere Tiere! Und wann immer tapfere Recken ausziehen, um sie zu vertreiben, verlieren diese ihr Leben durch einen Prankenhieb!“, klagten die Dörfler ihr Leid. Und als diese jammervollen Tränen Joachims Herz erreichten, versprach er, sich der Bären anzunehmen. So ging er mit seinen Gefährten in den nahen Wald. Bald erreichten sie eine Lichtung, auf der eine mächtige Bärin saß und mit wachsamer Ruhe ihre drei spielenden Jungtiere betrachtete. In ihrer Mitte aber, nah bei der Bärin, saß eine feine Jungfer, die in ein langes, weißes Kleid gehüllt war. Sie saß auf einem Baumstumpf und schaute mit sanftem Blick auf ihre Hände, die strahlende Sommerblumen ineinander verflochten. Als Joachim diese Jungfer sah, machte sein Herz einen leisen Sprung. Und als hätte sie diesen Sprung gehört, blickte die Jungfer auf und sah mit ihren lindenholzbraunen Augen in das Dickicht, in dem sich Joachim und seine Gefährten verbargen. Joachim war, als suchten ihre Augen die seinen. Und er ahnte, dass ihm diese Jungfer eines fernen Tages alles bedeuten würde.

Da drohte das Dickicht zu rascheln, als einer der Gefährten im wagemutigen Leichtsinn aufzuspringen versuchte, um die Bärin und ihre Jungtiere zu einem tödlichen Kampf herauszufordern. Joachim aber legte ihm geschwind eine Hand auf die Schulter und drängte ihn zurück. „Still!“, zischte er seinem Gefährten zu. „Eine Schlacht wie diese will mit Klugheit und Geduld begangen sein!“ So schlichen die tapferen Ritter von der Lichtung fort an einen Ort, an dem sie ihre Pläne fassen konnten. Dort sprachen sie ernste Worte miteinander. Einer von ihnen sprach im Übermut: „Die Überraschung war auf unserer Seite! Wir hätten das Getier gleich erschlagen sollen, dann wäre Frieden gewesen in diesem armen Dorf! Was bringt’s zu zögern!?“ Joachim jedoch blieb besonnen und dachte lange nach. „Irgendwas will mir nicht ganz gefallen an der Geschichte“, gab er schließlich zu. Doch was es war, vermochte er nicht zu sagen.

So warteten Joachim und seine Gefährten einige Tage in dem Dorf Barlewissen. Doch auch, wenn die Straßen am Morgen auf Bärenart verwüstet waren, gelang es ihnen nicht, die Bären bei ihrem Treiben zu bezeugen. Da haderte Joachim mit sich. Er verstand, was die braven Bürger von ihm und seiner Ritterehre erwarteten. Und er wusste, dass seine Gefährten mit ihm in den Kampf gegen das mächtige Bärentier ziehen würden. Und doch war irgendwas nicht rechtens.

Eines Morgens erwachte Joachim bereits zu früher Stunde. Ihm war im Traum, als sängen ihm die Vögel ein Lied von Heimat. Und weil er sich keinen Reim darauf machen konnte, kleidete er sich an und schritt in die frische Morgenluft hinaus. Sein Weg führte ihn immer tiefer in den Wald, bis er am Rande der Lichtung stand. Da trat die Bärin heraus aus der Höhle, in der ihre Jungtiere und die Jungfer lagen. Ganz so, als habe sie ihn kommen hören. Lange stand sie nur da, den Blick ihrer klugen Augen gen Dickicht gewandt. So lauerten sie beide. Die Bärin vor der Höhle und Joachim im Schutze der Bäume. Schließlich aber seufzte Joachim und trat auf die Lichtung. Die Bärin spannte ihre Muskeln an und schob ihren Körper schützend vor die Höhle. Ihre Lefzen zitterten in einem grollenden Knurren. Joachim aber verneigte sich.

„Guten Morgen, Mutter Bär“, grüßte er das wilde Tier, ohne sich weiter zu nähern. „Ich bedauere, Euch zu stören, doch es gibt ein dringliches Anliegen, dass ich mit Euch zu bereden habe.“ Joachim wusste nicht, was er sich von alledem erwartete. War ihm doch klar, dass ein Tier vor ihm stand und kein vernunftbegabter Mensch. Und doch, was immer er erwartet hatte, es hatte nichts mit dem gemein, was geschah: Die Bärin hörte auf, die Lefzen zu kräuseln, und bedachte ihn mit einem misstrauischen Blick. Dann ließ sie sich schwer auf ihren Hintern fallen, reckte den Hals und wies auf den Baumstumpf in der Mitte der Lichtung. Verwundert und vorsichtig tat Joachim, wie ihm geheißen war. Etwas verunsichert nahm er auf dem Baumstumpf Platz und erwiderte versöhnlich den fordernden Blick der Bärin. Diese schnaubte. Joachim verstand dies als Aufforderung, mit seiner Rede fortzufahren. Er räusperte sich. „Die Dorfbewohner von Barlewissen sind besorgt, dass Ihr des Nachts durch die Straßen wandert, die Häuser plündert, die Tiere reißt und ihre tapferen Recken tötet“, erklärte er. Da knurrte die Bärin verächtlich. Und eine sanfte Stimme erklang aus der Höhle: „Wenn Eure teuren Dorfbewohner ihr Leben wahren wollen, sollten sie aufhören, eine Mutter und ihre Kinder zu bedrohen.“

Als sie so gesprochen hatte, trat die Jungfer mit den lindenholzbraunen Augen und dem weißen Gewand aus dem Schatten der Höhle. Sie streckte ihre zierlichen Hände aus und vergrub sie kraulend in das Schulterfell der Bärin. Diese schloss kurz die Augen und gab ein genussvolles Gurren von sich. Dann wandte sie sich wieder mit lauerndem Blick dem seltsamen jungen Mann zu. Dieser aber hatte nur Augen für die Jungfer. „Was meint Ihr?“, fragte er mit ehrlichem Erstaunen. Die Jungfer reckte ihren Hals in stolzer Geste. „Wir suchen weder das Dorf heim, noch plündern wir die Häuser. An ihren Tieren haben wir kein Interesse und die Männer starben, da sie unsereins bedrohten. All diese Lügen sollen nur dazu dienen, uns aus unserem angestammten Wald zu vertreiben. Nun sage mir, Ritter, wer ist im Unrecht? Wir, die wir hier friedlich leben, oder jene, die uns heimsuchen?“ Da schwieg Joachim eine Weile. Schließlich nickte er. „Lasst mich eine Weile über diese Worte nachsinnen und sie mit den Dorfbewohnern teilen“, sagte er und zog von dannen, um über das Gehörte zu sinnieren.

Die Sonne stand im Zenit, als er nach einem langen Waldspaziergang ins Dorf zurückkehrte. Die Bewohner empfingen ihn überaus freudig, denn sie hatten gefürchtet, dass auch dieser tapfere Kämpfer ein Opfer der Bären geworden war. Er aber bat sogleich, mit dem Dorfobersten zu sprechen, und legte ihm das Erlebte dar. „Nun steht eine Aussage gegen eine Aussage“, schloss er die Erzählung. „Es ist leicht, nun eine Entscheidung zu treffen, doch es wird nie gewiss sein, ob es die rechte war. Daher möchte ich Euch, edler Dorfoberster, bitten, mit mir zu der Bärin zurückzukehren, um zu erfahren, was die Wahrheit ist.“

Der Dorfoberste war natürlich empört über diese ungerechten Worte. Wie absurd erschien es ihm, mit einem Bären zu verhandeln! Doch Joachim hielt seinem Blick stand und der Dorfoberste haderte. Wollte er sich doch keinesfalls vorwerfen lassen, nicht alles versucht zu haben, um den Frieden in sein Dorf zurückzuholen. Sei es auch etwas derart Lächerliches, wie das Gespräch mit einem Tier zu suchen. Und so erklärte er sich schließlich dazu bereit, sich für einen Schlichtungsversuch mit der Bärin zu treffen. Zusammen mit Joachim und zwei Begleitern machte er sich auf den Weg zu der Lichtung. Dort trafen sie auf die Bärin und die Jungfer, die sie zum Gespräch begrüßten. Als Zeichen der Gastfreundschaft hatten sie Beeren und Tau auf den Baumstumpf gelegt. Und so begannen die mühseligen Gespräche.

Joachim griff ein ums andere Mal schlichtend in den Wortwechsel ein. Und obgleich sie sich nicht auf eine gemeinsame Wahrheit einigen konnten, so gelang es ihnen doch, einen vorläufigen Frieden zu schließen. Der Dorfoberste versprach, dass keine Jungspunde zur Bärenjagd mehr ausgesandt würden. Und die Bärin versprach, dem Dorf nicht nahe zu kommen. Und so gingen sie auseinander. Beiden Seiten war klar, dass bei diesem Treffen keine endgültige Lösung gefunden worden war, doch Joachims Schlichtung hatte den Konflikt zumindest für eine Zeit abschwächen können. Nun würden die nächsten Wochen über den sensiblen Frieden entscheiden.

Als sie die Lichtung ein Stück weit hinter sich gelassen hatten, nahm Joachim den Dorfobersten zur Seite und flüsterte ihm ein paar wohlgemeinte Worte zu. Er erklärte, dass der geschlossene Frieden die Wahrheit nicht gänzlich erschlossen habe. Und so wäre es klug, Vorkehrungen zu treffen. Er regte an, dass auf den Wegen ins Dorf und in den Straßen des Abends Sand ausgelegt werden sollte. Und wessen Spuren am Morgen auch immer dort zu finden seien, wären die jenes Übeltäters, der für die Verwüstungen verantwortlich sei. Auch sollten sich tüchtige Jünglinge finden, die Wache halten sollten. So ward es getan.

Es dauerte kaum eine Woche, da waren die Häuser erneut geplündert und ein weiteres Tier war geschlagen. Nun aber waren im Sand deutliche Fußspuren zu sehen, die nichts mit denen eines Bären gemein hatten. Und auch die Wächter hatten keine Tiere gesehen, sondern nur in die Dunkelheit gehüllte Gestalten. Und so hielt Joachim selbst Wache. Er spannte dünne Schnüre in den Straßen, die in seine Kammer führten und dort an einem kleinen Glöckchen endeten. Wer immer an diese Schnüre käme, würde das Glöckchen zum Klingen bringen und somit seine Anwesenheit kundtun.

Joachim ward weit nach Mitternacht von dem leisen Glöckchen geweckt. Er nahm sich Schwert und Wams und schlich hinaus in die Dunkelheit. Er erblickte alsbald die Gestalten und folgte ihnen leise nach. Sie schleppten ein weiteres Mal Diebesgut fort bis tief in den Wald und hinterließen ein gerissenes Tier im Graben. Doch nicht zur Bärenlichtung führte ihr Weg, sondern ins tiefste Unterholz, wo sie eine Hütte als Quartier hatten. Dort saßen lachende Männer am Feuer und Berge von Diebesgut türmten sich neben ihnen auf. Die Männer stießen mit Bier auf ihre List an und freuten sich, dass die Dorfbewohner durch ihre Angst vor den Bären blind waren für die Wahrheit. Joachim beobachtete alles genau, als er plötzlich einen vertrauten Blick auf sich spürte. Er kniff die Augen zusammen und suchte das gegenüberliegende Dickicht ab, als er die Jungfer erblickte. Sie legte den Finger auf ihre vollen Lippen und nickte gen Norden. Joachim verstand. Mit leisen Schritten machte er sich auf den Weg, um die Jungfer zu treffen.

„Was machst du hier?“, flüsterte er ihr zu, als er sie in sicherem Abstand zu dem Banditenlager traf. Sie erklärte, sie habe sich selbst auf die Suche nach der Wahrheit machen wollen. Als Joachim nach ihrem Grund fragte, lächelte sie verlegen. „Seit so langer Zeit kommen Leute und bedrohen unser Leben aufgrund haltloser Gerüchte. Sie greifen uns an, ohne sich für unser Erleben zu interessieren. Du aber warst der Erste, der nach unserer Seite gefragt hat. Du warst der Erste, der sich dazu bereit erklärte, vorurteilsfrei zu vermitteln. Da verstand ich, dass auch wir uns auf die Suche nach der Wahrheit machen können. Und so wachten meine Familie und ich über das Dorf und folgten den Banditen, die uns ihre Schandtaten anhängen wollen.“

Joachim reichte ihr die Hand. „So lass uns gemeinsam gegen die Banditen ziehen“, bot er an. Die Jungfer zögerte einen Moment und schaute auf seine Hand. Dann aber stimmte sie gerne mit einem Handschlag in diese Partnerschaft ein. Joachim genoss die Wärme ihrer zarten Haut, die auf ihn überfloss. Und er hätte sie am liebsten nimmermehr losgelassen. Da blickte er ihr in die lindenholzbraunen Augen und lächelte ihr zu. Schließlich fragte er: „Nun, da wir Gefährten sind, bitte ich dich, dass du mir deinen Namen nennst.“ Und die Jungfer antwortete, dass er sie Sitta nennen solle.

So berieten sich Sitta und Joachim, wie sie mit den Banditen verfahren sollten. Sie entschieden, dass sie zunächst den Dorfbewohnern Bericht erstatten wollten. Aber damit diese ihnen Glauben schenkten, bräuchten sie wohl einen Beweis. Und so schlichen sie erneut zum Lager, um ein Stück aus dem geraubten Schatz mit sich zu nehmen.

Die geraubten Schätze lagen auf der Grenze zwischen dem schattigen Waldrand und dem Lagerfeuer, wo sich die berauschten Banditen mittlerweile zum Schlafen gelegt hatten. Nur einige von ihnen hielten noch im Beisein eines Hundes Wache. Da sie diese Wachen besser meiden sollten, nährten sich Sitta und Joachim vorsichtig und achtsam immer näher an. Endlich waren sie angekommen und mussten schnell ein markantes Schmuckstück ausmachen. Gerade als Joachim nach einem Brokattüchlein mit aufgesticktem Stadtwappen griff, kam der Hund der Banditen witternd auf sie zu. Er stockte, blickte auf und begann, bedrohlich zu knurren. Joachim spürte, wie Sitta ihre Hand auf seinen Arm legte. Einer der Wächter wandte sich dem knurrenden Hund zu. „Ist da was?“, fragte er den Hund. Sittas Griff um Joachims Arm verstärkte sich. „Nimm das Tuch!“, zischte sie. „Und dann nichts wie weg.“ Der Wächter aber hatte sich bereits in Bewegung gesetzt. „Ist da wer?“, fragte er in Richtung der Dunkelheit und kniff die Augen zusammen. Da er so lange dem Feuer zugewandt gewesen war, konnte er in den Schatten des Waldes nichts erkennen. Und das war ein Glück für Sitta und Joachim, die unter dem wütenden Bellen des Hundes aufsprangen und zurück in den Wald stürzten. Der Hund jagte hinterher. Seine Lefzen bebten und Speichelfäden flossen von seinen Zähnen. Er jagte Sitta und Joachim immer weiter. Und auch einige der Wächter kamen nun hinterher.

Sitta, die in dem Wald aufgewachsen war, zog Joachim auf ihrer zielsicheren Flucht hinter sich her. Das beginnende Zwielicht des anbrechenden Tages erleichterte ihnen, ihre Schritte zu setzen, und hielt sie zugleich noch vor ihren Verfolgern verborgen. Immer wieder warf Sitta einen Blick zurück, doch der Hund holte unerbittlich auf. Da knirschte Sitta mit den Zähnen und schob Joachim von sich fort. „Lauf! Wir treffen uns im Dorf!“, schnaubte sie und rannte in die entgegengesetzte Richtung. Joachim tat, wie ihm geheißen, und hoffte, dass der Hund ihm folgen würde. Auf einmal aber hörte er ein unmenschliches Brüllen, ein jämmerliches Fiepen und plötzlich Stille. Er blieb schlagartig stehen. Mit panischem Blick suchte er den Wald nach einem Zeichen von Sitta ab. Aber alles, was er hörte, waren die Banditen, die sich durch das Unterholz schlugen.

Vollkommen außer Atem erreichte Joachim das Dorf. Er rief sogleich die Dorfbewohner zusammen und berichtete von seinem Fund. „Nicht die Bären noch die Dorfbewohner sind hier Ursache des Streits. Banditen leben im Wald und bedienen sich eurer Uneinigkeit“, erklärte er und präsentierte als Beweis das Brokattüchlein, das die Frau des Dorfobersten sogleich als das ihrige erkannte. Da baten die Dorfbewohner, dass Joachim und seine Gefährten die Banditen vertrieben, sodass wieder Ruhe und Frieden in Barlewissen einziehen mögen. Er nickte. „Ich breche auf, sobald ich Sitta gefunden habe. Bevor ich nicht weiß, dass sie wohlbehalten ist, werde ich nicht in den Kampf ziehen.“

Da trat Sitta aus der Menge. Ihre Haare waren zerzaust und ihr weißes Gewand zerrissen und blutbefleckt. Joachims Herz stockte. Er eilte ihr entgegen und schaute nach Wunden. „Ich bin unverletzt“, beruhigte sie ihn. Dann lächelte sie. Und dieses Lächeln erinnerte Joachim daran, dass ihm diese Frau eines nicht gar so fernen Tages alles bedeuten würde. Sie lehnte sich ihm entgegen und nahm seine Hände. „Lass uns diese Banditen gemeinsam vertreiben“, schlug sie ihm vor.

So näherte sich die kleine Gruppe nach kurzer Vorbereitung dem Banditenhort. Einige der Banditen schliefen ihren Rausch aus. Doch die Wachen und einige andere waren in ein hitziges Gespräch vertieft, darüber, ob ihr im Wald gerissener Hund ein Zeichen sei, dass sie weiterziehen sollten, um das nächste Dorf mit ihrer List zu plündern. Da schlug einer von Joachims Gefährten im Flüsterton vor, die Banditen einfach ziehen zulassen. Ein Kampf ginge nicht ohne Blutvergießen vonstatten und zögen sie aus freien Stücken fort, herrschte in Barlewissen ebenfalls Frieden. Doch Joachim schüttelte den Kopf. „Ob sie hier oder in einem anderen Dorf ihr Unwesen treiben, ist einerlei. Es ist unsere Verantwortung, sie festzusetzen und der Gerichtsbarkeit zu übergeben.“ Dann ersann er einen Plan und weihte seine Begleiter ein. Er gab ihnen Zeichen und sie verteilten sich um das Lager herum. Zugleich sollten sie zugreifen, sodass die Banditen keine große Möglichkeit zur Wehr hatten.

Vorsichtig schlichen sich Sitta, Joachim und seine Gefährten von verschiedenen Punkten in das Lager. Jeder von ihnen hatte die Waffen zum Kampf gezogen. Sie wollten so tief wie möglich eindringen, bevor sie angriffen. Joachim war’s, der den ersten Banditen mit dem Schwert niederstreckte. Als dessen Körper schwer zu Boden fiel, bemerkte dies ein anderer Bandit. Jener zog sein Schwert und schlug Alarm. Dann jagte er auf Joachim zu.

Die Banditen waren in der Überzahl, aber von Alkohol und Müdigkeit geschwächt. Sie lieferten einen schweren Kampf und verwundeten einige der Gefährten. Joachim kämpfte tapfer. Seine Zeit als Ritter hatte seine Fertigkeiten wohl geübt. Doch die Mühen der letzten Tage und der Mangel an Schlaf forderten ihren Tribut und als drei Banditen zugleich auf ihn stürzten, fiel es ihm schwer, die Schläge zu parieren. Immer unerbittlicher folgten die Hiebe. Und Joachim musste sich immer weiter zurückziehen. Dabei ward er mehr und mehr in die Richtung eines vierten Banditen gedrängt, der sich bereits zum hinterhältigen Schlag bereit machte. Erst im letzten Moment sah Joachim das erhobene Schwert hinter sich. Doch anstatt von einem scharfen Schwerthieb, ward er von einem weichen Körper zu Boden gerissen.

Sitta hatte gesehen, in welcher Gefahr sich Joachim befunden hatte, und war ihm zu Hilfe geeilt. Sie hatte ihn umgestoßen und blickte nun auf die Banditen, die sie und Joachim umgaben. Ihre Haut begann zu flimmern, wie Luft in der Hitze. Um sie herum formte das wirre Licht die mächtige Gestalt eines Bären. Sie öffnete den Mund und brüllte furchteinflößend in der Stimme eines Bären. Die Banditen zögerten. Und im nächsten Moment stürzte die Bärin aus dem Unterholz, um ihr Junges zu beschützen.

Als die Bärin zu wüten begann, war der Kampf alsbald siegreich beendet. Die verbliebenen Banditen ergaben sich und wurden der Gerichtsbarkeit von Barlewissen übergeben. Die Schätze wurden den Dorfbewohnern zurückgegeben und in ihrer Erleichterung bedankten sie sich überschwänglich. Sie entlohnten Joachim und seine Gefährten großzügig. Sitta und den Bären wiederum versprachen sie einen aufrechten und dauerhaften Frieden. Dann wurde in dem Dorf ein dreitägiges Fest gehalten. Die Wahrheit war gefunden. Und Barlewissen war nunmehr sicher.

Nachdem sich der Staub der Schlacht gelegt hatte und die Anstrengungen sich in eine feierliche Erleichterung gewandelt hatten, standen Joachim und Sitta etwas abseits beieinander. Sie schwieg. Er betrachtete sie forschend. „Was habe ich dort auf dem Schlachtfeld gesehen?“, fragte er schließlich. „Eines Bären Tochter“, antwortete Sitta mit gesenktem Blick. „Wir entspringen einem langen Geschlecht an Wächtern des Waldes“, erklärte sie weiter. Und dann erzählte sie, dass es dieser Wächter einige gäbe. Sie hätten vielerlei unterschiedliche tierische Gestalten, doch alle hundert Jahre würde einer ihrer Nachkommen in der Gestalt eines Menschen geboren und führte das Leben eines Menschen. Zugleich erbten sie die Talente ihrer Linie und gäben sie an ihre Kinder weiter. „Ich bin der menschliche Nachkomme unserer Linie“, schloss sie ihre Erzählung. Da lächelte Joachim und tat einen vorsichtigen Schritt auf sie zu. Er beugte sein Knie und nahm zärtlich ihre Hand, um einen Kuss darauf zu hauchen. „Es ist mir eine Ehre, dich kennengelernt zu haben“, sagte er mit einem Lächeln.

Joachim begleitete Sitta zurück auf die Lichtung, wo sich die Bärin mit ihren drei Jungtieren befand. Joachim schien es ganz so, als zwinkerte die Bärin ihm zu. Dann kam sie ihm ein paar Schritte entgegen und beugte ihr Haupt ein kleines Stück. „Du hast wohl getan, Mensch“, brummte die Bärin schließlich. „Du hast Großmut und Weisheit bewiesen. Geduld, Verstand und Geschick.“ Joachim lächelte, aber er schwieg. Erfreut über die wohlwollenden Worte dieses Wächters des Waldes. So fuhr die Bärin fort: „Ich will dich für deine redliche Tat belohnen. Von nun an soll dein Geschick als Schlichter und Zeuge von der Welt gesehen und gelohnt werden. Wer immer dich und deine Nachkommen antrifft, soll euer redliches Handeln mit Hochachtung, Ehre und großem Lohn bedenken. Dein Geschlecht soll die Zeit überdauern und zu hohem Ansehen und Wohlstand gelangen. Und um dies zu sichern, biete ich dir meine Tochter zum Geleit. Denn ich sehe, dass ihr einander wohl zugetan seid.“ Da fand Joachims Hand die von Sitta und sie lächelten einander voller Zuneigung zu. Und sie wussten, dass sie sich eines baldigen Tages alles bedeuten würden.

Nicht lange danach wurde Hochzeit gehalten zwischen der Bärentochter und Joachim. Die dankbaren Dorfbewohner und die Bärin mit ihren Jungtieren feierten diese Verbindung. Und der Dorfoberste verlieh dem jungen Paar den Namen „Haus von Berleip“.

Das junge Paar verlebte glückliche Jahre. Sie waren einander ebenbürtig und behandelten sich mit Respekt und Liebe, wie sie es von ihren Familien gelernt hatten. Und schließlich bekamen sie ihren ersten Sohn, den sie Cunradus nannten. Als sie ihren Sohn in ihren Armen wiegten, wussten sie, dass sie ihm die noblen Werte des Hauses von Berleip lehren würden. Sie würden ihn lehren, zu lieben und Mitgefühl zu haben. Sie würden ihn lehren, klug und bedächtig zu handeln. Und sie würden ihn lehren, demütig zu sein gegenüber der Welt. Und Joachim blickte voller Liebe und Stolz auf seinen Sohn. Er küsste seine Frau, die ihm alles bedeutete, und flüsterte die Wünsche, die er für seine Familie hegte, in den Wind.

Dieser Wind streift auch jetzt, viele Generationen später, noch über die Mauern jenes altehrwürdigen Schlosses, das dereinst nach vielen Unruhen, Wendungen und Geschicken des Lebens der Stammsitz der Familie von Berleip sein sollte. Dutzende von Geschichten sollten noch geschehen, bevor die Familie vom Hause Berleip hoch über den Lindenkronen des Werratals ihre angestammte Heimat fand, und ihr Name sich in „von Berlepsch“ wandelte. Die Heimat aber, die sie dort fanden, ward Schauplatz von noch hunderten weiterer Geschichten. Geschichten von Rittern und Dichtern, Schriftstellerinnen und Gottesdienerinnen, Raufbolden und Halunken. Geschichten von tüchtigen Geschäftsleuten, wagemutigen Wüstlingen, tapferen Müttern, klugen Vordenkern und frühen Emanzipatorinnen. Über Jahrhunderte hinweg begleitete dieses Schloss über den Lindenkronen des Werratals die Familie von Berlepsch als deren Stammsitz durch die unterschiedlichsten Epochen. Es begleitete sie durch gute, schlechte, friedliche und aufgewühlte Zeiten. Und dabei unterzog es sich selbst einem ständigen Wandel. Einstig eine wehrhafte Feste ward das Schloss zu einem wohnlichen Heim und einer gewichtigen Kulturstädte. Und so fand Schloss Berlepsch seinen Platz in der Welt. Als Zeuge einer alten Zeit und Tor in eine glorreiche Zukunft ist Schloss Berlepsch eine Heimat für jene, die ihr Leben in den Dienst der redlichen Tugenden der Familie von Berlepsch stellen wollen.